„Widersagst du dem Bösen, um in der Freiheit der Kinder Gottes leben zu können?“ So werden Menschen gefragt, die sich – auch dieses Jahr in der Osternacht – taufen lassen werden. Und sie widersagen. Lange Zeit fiel es ein wenig schwer, über die Wirklichkeit des Bösen zu sprechen, es als reale Macht wahrzunehmen. Es schien ein Wort aus anderen Zeiten. Aber die Zeiten haben sich geändert. Kriege wie in der Ukraine, erschreckende Gemetzel wie in Israel und Gaza, selbstverständliche Lügen und Fakenews, eine dramatische Polarisierung unserer Gesellschaft und die nicht seltene Unfähigkeit zum echten Dialog sprechen eine erschreckende Sprache – eine Sprache des Diabolischen, des Bösen.  Und zwischen Putin und Trump, Erdogan und Xi wird ein Missbrauch von Macht sichtbar, der kaum zu begreifen ist.

Nie so wie in diesen letzten Jahren offenbart sich die Radikalität des Bösen und seiner Macht so unverstellt. Wie kann man dieser oft dämonischen Macht widerstehen? Wie kann man verhindern, in den Sog der Erregtheit hineingezogen werden? Wie kann man nicht mitspielen, und wie kann ein anderer Weg eingeschlagen werden?

Die Demonstrationen der vielen Menschen für Demokratie und Gleichwürdigkeit, die ebenso plötzlich ans Licht und auf die Plätze gekommen sind, machen deutlich, dass es in vielen Menschen auch ein Gespür für die Echtheit des Menschseins gibt, für jene Geschwisterlichkeit unter allen Menschen, eben für das, was wir als Christen die Freiheit der Kinder Gottes nennen.

Denn diese Rede handelt ja nicht von einer frömmelnden Ideologie, sondern es geht um eine neue Existenzform: eine geschenkte Freiheit, aus der wir leben und durch die wir frei werden von der Macht, die sich auch auf uns legen will. In einer mehr als säkularen Moderne wird wieder ansichtig, was für eine Widerstandskraft in einem gelebten und authentischen Christsein liegen könnte…

Bald ist Ostern. Bald feiern wir jenes Ereignis einer Liebe, die den Tod, die übergriffige Macht, die diabolische Verzerrung der Wirklichkeit, die Abgrundtiefe unsinnigen Leids überwunden hat, indem er selbst in Freiheit diese Macht erlitten und gebrochen hat – zugunsten des Lebens. Bald ist Ostern, und wir feiern Auferstehung. Wir feiern das Ereignis einer Liebe, die uns frei macht, die Fesseln löst und Wunden heilt – und uns fähig macht zu Widerstand und Engagement. Taufe heißt, dem Bösen widersagen können und in der Freiheit der Kinder Gottes leben zu können – es ist mehr als ein Segen, es ist ein Lebensstil.

Inmitten der undurchschaubaren und komplexen Verwicklungen, die leicht in die Logik der Macht und Übermacht abdriften, gilt es neu, die Freiheit zu spüren und das Ereignis des Lebens zu erfahren – und Beziehungen zu stiften. Wie sagte Papst Franziskus in Evangelii Gaudium? Heute, da die Netze und die Mittel menschlicher Kommunikation unglaubliche Entwicklungen erreicht haben, spüren wir die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt. Auf diese Weise werden sich die größeren Möglichkeiten der Kommunikation als größere Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität zwischen allen erweisen. Wenn wir diesen Weg verfolgen könnten, wäre das etwas sehr Gutes, sehr Heilsames, sehr Befreiendes, eine große Quelle der Hoffnung! Aus sich selbst herausgehen, um sich mit den anderen zusammenzuschließen, tut gut. Sich in sich selbst zu verschließen bedeutet, das bittere Gift der Immanenz zu kosten, und in je- der egoistischen Wahl, die wir treffen, wird die Menschlichkeit den kürzeren ziehen. (EG 87)

„Eine Steigerung ihrer Attraktivität kann die Kirche in der aktuellen Lage nicht über rein religiöse Aktivitäten gewinnen. „Heiliges“ wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering…. Am meisten gefragt, erwartet und eingefordert werden Aktivitäten der Kirche im Bereich sozialen und solidarischen Handelns.“  So schreiben die Autoren der neuesten Kirchenmitgliedschaftsstudie. Das ist spannend und herausfordernd. Heißt das etwa, dass Spiritualität doch kein Megatrend ist und – wie die Studie auch unterstreicht – die Rede von einer im Menschen grundgelegten Religiosität nur eine Wunschvorstellung ist?

Mich hat dieses Studienergebnis sehr zum Nachdenken angeregt und bewegt. Denn vielleicht wird hier auch deutlich, dass wir auf dem Sprung zu einer neuen Entwicklung von Spiritualität und Glauben sind. Denn eins ist ja klar: bis in die jüngste Vergangenheit gab es eine Normativität spiritueller Praxis, die kirchlich geformt war – oder man wanderte in „esoterische“ Formen ab: zwischen Yoga, Naturspiritualität und Zen, die auch in christlichen Kontexten erfolgreich ausprobiert wurden.

Dabei ist wichtig, dass eine spirituelle Praxis, kirchlich geformt oder mit dem Reichtum anderer Religionen verknüpft, nie mehr ist als ein Instrument und Mittel für die Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens, das wir Gott nennen. Ich denke, dass wurde oft verwechselt: nicht die Eucharistiefeier, nicht die bestimmte Gebetsform, nicht die Lobpreismusik, nicht eine bestimmte Meditationskunst, nicht das Lesen der Bibel ist das Ziel, sondern immer nur ein Weg zur Begegnung mit Gottes Wirklichkeit, mit seiner Gegenwart.

Und in der Tat erlebe ich aber zu sehr, dass die kirchlichen Formen mit dem Ziel verwechselt werden. Wenn daher viele Menschen mit diesen Formen nichts mehr anfangen können, dann vielleicht auch deswegen, weil viele dieser Formen eben nur noch wie leere Hülsen wirken – und nicht zu einer Erfahrung des Geheimnisses führen.

Ich würde also folgern, dass die Menschen unserer Zeit heute deutlich spüren, ob hinter einer Form eine echte Substanz steckt. Und das, so spüren sie vielleicht zu Recht, ist gerade in der zuweilen fremden und rituellen kirchlichen Praxis nicht erfahrbar. Vielleicht zeigt diese Emanzipation von kirchlichen Formen, die nur formal sind, eigentlich ein tiefes Sehnen nach Begegnung und Berührung mit einer Wirklichkeit, die man nicht „in die Hand“ bekommen kann, die ergreift und erfüllt.

Und ich frage mich auch, ob nicht die zeitgenössische Sensibilität für das „Soziale“ einen weiteren Kern der spirituellen Identität des Christseins trifft. In der Tat ist ja für uns Christen die Begegnung mit dem Anderen, die Gemeinschaft zwischen Menschen die eigentliche Fülle des Lebens: Communio eben. Die Kunst des Miteinanders, die Kunst des Liebens, die Option für den Nächsten – das ist eigentlich der Königsweg des Christseins, der das Sich-Ereignen der Gegenwart Gottes erwartet und öffnet. Das „Soziale“ ist mehr als zugewandte Sozialarbeit, es ist „Caritas“, ein anderer Name für Gott.

Kann es also sein, dass die in der 6. Studie zur Kirchenmitgliedschaft deutlicher als je ein tiefer „sensus fidei“ sichtbar wird? „Spüren“ die Herzen der Menschen in Deutschland – jenseits konfessioneller und institutioneller Rahmungen – die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes tiefer, als kirchengebundene Untersuchungen großkirchlicher (und auch freikirchlicher) Provenienz ihnen unterstellen? Zeigt sich hier eine „wilde Kirchlichkeit“, die ursprüngliche Grunderfahrungen ins Licht rückt? Und ist das nicht eigentlich die Chance dieser Zeit der Umbrüche und Transformationen?

Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien

Dass wir am Ende einer Epoche kirchlichen Lebens und eines damit zusammenhängenden kirchlichen Gefüges stehen, dazu braucht es nur die Einsicht in Entwicklungsprozesse, die seit 60 Jahren religionssoziologisch gut dokumentiert sind. Um so erstaunlicher ist es, dass seit genau derselben Zeit ein Reformprojekt das nächste ablöst: Es gab und gibt immer noch die Hoffnung, ein Bild-, Lebens- und Gestaltgefüge zu erhalten, das – mindestens in den Herzen der damit engagierten Menschen – erfolgreich gewesen ist. Eine „Kybernetik erster Ordnung“ (Dessoy) hofft, dass mit einer besseren Kirchenstruktur, mehr Partizipation, reformierten Moralvorstellungen, mit mehr Spiritualität und Liturgie eine Kirche in die Zukunft geführt werden kann, die authentisch und glaubwürdig das Evangelium bezeugt und Menschen sammelt.

Diese Hoffnung ist verständlich, aber eine eher verzweifelte Utopie. Denn sie will doch ein Gestaltgefüge und eine Bilderwelt bewahren, die eben nicht von heute ist.  Allen progressiven Fanfarenstößen zum Trotz ist sie viel verwandter mit ihren konservativen Gegnern, die auch in Untergangs- und Rettungsfanfaren stoßen. Es geht immer darum, „die Kirche“ zu bewahren und zu entwickeln. Aber auch hier findet eine folgenschwere Verwechslung statt: auch hier wird das Bild einer Kirchengestalt so eng verknüpft und verwechselt mit dem Glutkern der christlichen Botschaft.

Vielleicht ist das unvermeidbar, weil eben diese Botschaft sich immer wieder neu inkarniert, inkulturiert und Gestalt geben muss – aber das würde ja auch heißen, dass immer neue Auflösungsprozesse dann geschehen, wenn Gesellschaften sich verändern und verwandeln. Und genau so war es in der Kirchengeschichte – und genau so ist es heute.

Wie dramatisch dies gefühlt wird, zeigen die Ratlosigkeit, die Rastlosigkeit und die polarisierte Emotionalität, die apokalyptische Semantik, der Zorn und die Wut, die sich auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zeigt. Diese tief gefühlte und gelebte Unruhe zeigt an, dass es wirklich wahr ist: eine Kirchenwirklichkeit zerbröselt und löst sich auf.

Lässt sich, jenseits der verzweifelt-aggressiven Schuldzuweisungen, der Fehler und Skandale,  und der offensichtlichen Dysfunktionalitäten vieler kirchlicher Situationen auch theologisch hier ein Deutungszugang finden?

Eschatologische Notwendigkeit

Wer sich am II. Vatikanischen Konzil erfreut, der ist froh über die theologische Neuausrichtung des Kirchenverständnisses. Die starke strukturelle Fixierung einer hierarchischen Machtasymmetrie, die Idee und das Bild einer „societas perfecta“ und der ideologischen Fixierung einer Gemeinschaft der Ungleichen wird im Rückgriff auf die Schrift und die Theologie der Kirchenväter überwunden. Kirche ist das wandernde Volk Gottes – diese Theologie des Volkes Gottes inspiriert die Kirchenaufbrüche der Nachkonzilszeit. Die sich in der Folgezeit zeigenden Konflikte machen mehr als deutlich, wie die Rede von der Gleichwürdigkeit aller Christen, die Neujustierung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften und die Rekalibrierung der Amtstheologie tatsächlich ein anderes Paradigma ekklesiologischen Nachdenkens im Blick haben.

Gleichzeitig hat die Rede vom wandernden Gottesvolkes für die Kirche eine provozierende Herausforderung. Kirche ist auf dem Weg und übersteigt sich ständig selbst. Weil es Gott ist, der sein Volk durch die Zeit führt, „bleibt“ die Kirche nur sie selbst, wenn sie sich in jeder Zeit neu sammeln lässt, neu formiert und neuen Gestaltwerdungen Raum gibt. Damit dreht sich die Perspektive um: es geht eben nicht darum, eine bestimmte Gestalt der Kirche durch die Geschichte zu tragen und zu bewahren, sondern sich immer wieder neu vom Geist Gottes durch die Geschichte tragen zu lassen – und zu entdecken, welche Gestalt der Kirche in welcher Zeit angemessen ist. Jede Kirchengestalt ist also grundsätzlich und notwendig immer wieder in einem Auflösungsprozess, weil sie grundsätzlich und notwendig in einem ständigen Werdeprozess ist. Und dieser Werdeprozess, der in sich immer neue Momente der Auflösung zugunsten des Werdens einer neuen Gestalt ist, hat einen radikalen eschatologischen Fluchtpunkt: die Kirche ist eben nicht der Zielpunkt des Weges Gottes mit dieser Welt, sondern sie ist ein Mittel, „Zeichen und Werkzeug“, dass sich am Ende der Zeiten auflöst. Das biblische Bild des himmlischen Jerusalems (Offb 21) macht drastisch deutlich, dass der Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte, die verschiedenen Kirchengestalten nur dem einen Ziel der letztlichen Auflösung der Kirche im Reich Gottes dienen. Damit wird klar, dass jede Kirchengestalt immer wieder in der Logik der Auflösung und des Geborenwerdens steht – und dass diese Prozesse eben nicht zu steuern oder zu vermeiden sind, sondern der inhärenten Notwendigkeit und Dynamik des Evangeliums und des wirkenden Geistes entsprechen.

Das Muss des Sterbens

Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.

Damit aber wird das Ende einer Kirchengestalt zum Warten auf das Werden einer Kirche, die noch nicht bekannt ist. Das macht es herausfordernd: denn alle Rede einer Kirchenentwicklung muss ja noch einmal neu gelesen werden, wenn Entwicklung nicht einfach strategische Maßnahmen meint, sondern sich viel radikaler einschreibt in die Geschichte von Tod und Auferstehung Jesu – und Entwicklungsprozesse dem Handeln Gottes an seinem Volk nachspüren wollen.

Das heilsgeschichtliche „Muss“ des Leidens und Sterbens gehört also zur DNA der Kirche, vor allem ihrer Gestalt. Deswegen ist es auch riskant, aus der vergehenden (und sich auflösenden) kirchlichen Gegenwart Zukunftsprojektionen zu wagen – denn viel zu treffsicher würden sie nur Vergangenheit mit eigenen Wunschprojektionen verknüpfen.

Umgekehrt: gerade auch die Auflösung und das Ende einer Kirchenformation ist wirklich mit einer konstitutiven Ohnmacht verknüpft, mit Schmerzerfahrungen des Verlustes, mit Angst und Verlassenheit. Es ist unschwer zu erkennen, dass die derzeitigen Transformationsprozesse als Sterbeprozess gelesen werden können: die Nichtannahme der Wirklichkeit, die zu einem langem Weiter-so führten, die Ideen zu Verbesserung und Veränderung der Trends verzögern zwar das Sterben, verhindern es aber nicht. Die Erfahrung und das Gefühl der Gottverlassenheit und die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber diesen Prozessen führen zu einer verzweifelt-depressiven Grundgestimmtheit. Sie ähnelt denen der Jüngerinnen und Jünger unter dem Kreuz.

Demütige Selbstrelativierung

Zweifellos wirkt auf mich die derzeitige Diskussion um die weitere Entwicklung der Kirche sehr selbstreferenziell und redundant. Kein Ausweg, nirgends, aus den schon bekannten Pfaden und Abhängigkeiten. Kein Ausweg erkennbar aus dem Wunsch, sich selbst zu erhalten. In diesem Kontext ist mir die theologische Reflexion Dietrich Bonhoeffers weiterhin zentral. Hier bündeln sich die beiden benannten Akzente von Eschatologie und Kreuzestheologie in ekklesiologischer Zuspitzung mit einer provozierenden Ergänzung. Dietrich Bonhoeffer vermag das Ende einer gewohnten Kirchen- und Glaubensgestalt zu verknüpfen mit einer ekklesiologisch zugespitzten Theologie der reinigenden Läuterung. Er verweist – in seinem bekannten Taufbrief an sein Taufkind – darauf, dass die Kirche (und er meint seine protestantische Kirche) sich um sich selbst und ihren Selbsterhalt gekümmert hat – und genau dies führt zur Unfähigkeit, die frohe Botschaft und den Kern des Glaubens relevant und existenziell für sich selbst und die Zeitgenossen zu sagen: Und deswegen formuliert er: „… unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis du groß wird – so schreibt er an seine Taufpatenkind – wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein“.[1]

Hier wird die innere Dimension des Zerbrechens und Neuanfangens benannt und zugleich eine demütige Selbstrelativierung ins Wort gehoben: wir sind nicht die Kirchenentwickler, sondern wir sind hineingenommen in einem Prozess der Neugeburt, der nicht nur die Gestalt der Kirche verändert, sondern vor allem und in allem die Christen. Beten und Tun des Gerechten sind die Grundmerkmale christlicher Existenz und adventliches Warten auf das Neuwerden. Bonhoeffer warnt hier, Kirche neu zu organisieren, bevor sie nicht radikal in neuer Gestalt geboren wird.

Die Anerkenntnis der Selbstzentrierung auf die Kirche und ihren Erhalt ist dabei der erste Schritt, um in eine noch unerkannte Zukunft zu gehen, die hier nicht vorhersehbar ist. Ein Prozess der Umkehr und Läuterung führt in eine neue Demut.

Auszuhaltende Uneindeutigkeit – Vom Übermut des Totsagens

Wenn immer wieder von der „letzten Chance“ der Kirche die Rede ist, wenn immer wieder unterstrichen wird, dass wir kurz vor dem Ende der Kirche stehen, dann ist theologische Achtsamkeit gefragt. Wer genauer hinschaut, der erkennt nämlich recht schnell, dass die Prozesse der Auflösung und Verwandlung nicht organisierbar sind, sondern geschehen. Mir wird das immer wieder deutlich an den prophetischen Versuchen, bestimmte Formationen in der Kirche totzusagen: weder sind bislang Gemeinden gestorben, noch sind Ordensgemeinschaften von der Bildfläche verschwunden. So wahr es ist, dass es eine konstitutive Überalterung vieler kirchlicher Formate und Gottesdienste gibt, so überraschend ist doch, dass immer noch viele Formen existieren, viele Menschen sich leidenschaftlich engagieren und Formen und Formate tragen, die totgesagt wurden.

Offensichtlich ist die Theo-Logik der Auflösung nicht einfach die Logik eines konsekutiven Prozesses zwischen Sterben und Auferstehen, sondern sie ist gekennzeichnet von einer unübersichtlichen Uneindeutigkeit und Vielfalt. Nein, der Tod lässt sich nicht vorhersagen, das Sterben ist oft ein langer Prozess, die Versuche des Erhaltens sind mit viel Leidenschaft durchtränkt – und es wird nicht schnell und einsichtig deutlich, dass das Alte gegen das Neue ausgespielt wird.

Die Rede von einer „blended ecology of church“, einem „kirchlichen Mischwald“ und also einer zu hütenden Vielfalt von kirchlichen Werde- und Vergehensprozessen ist daher wichtig: Kriterium des Sterbens, sich Auflösens und Werdens ist immer die Kraft des Evangeliums, die göttliche und inspirierende Geistkraft – und die lässt sich natürlich in Menschen und ihren Initiativen erkennen.

Charismatischer Gegenwartsüberschuss – Von der Ohnmacht der Kirche und der Macht des Evangeliums

Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass wir – selbst einbezogen mit unseren Bildern, Hoffnungen, Erwartungen, Theologien und Projektionen in diese schmerzhaften Auflösungs- und Werdeprozesse – eher mitwirkende Beobachter und Akteurinnen sind in einem Prozess, den wir nicht überschauen können. Die Fokussierung des Blickes richtet sich theologisch deswegen weniger auf das Absterben und Auflösungsprozesse als vielmehr auf das schüchterne und kleine Werden neuer Erfahrungen.

Wer einen Blick in die Kirchengeschichte wagt, wird dabei nämlich immer wieder mit unerwarteten Aufbrüchen konfrontiert, die aus der Geisteskraft, charismatischen Persönlichkeiten und ihren Sammlungsbewegungen hervorgehen. Gerade immer dann, wenn – meist durch äußere Einflüsse – Sterben und Auflösung gesellschaftlicher und kirchlicher Sicherheiten radikale Zusammenbrüche hervorriefen, entstanden neue ungewohnte kirchliche Wirklichkeiten, die der jeweiligen Zeit entsprachen und zugleich die Kraft des Evangeliums in neuartiger Weise bezeugten.

Das ist nicht planbar, das ist auch nicht wünschbar, sondern es geschieht aus dem charismatischen Überfluss des Evangeliums, das auch in zusammenbrechenden Kirchenkonstellationen verkündet wurde. Dass dies auch immer wieder Konflikte auslöste, lässt sich in der Ordensgeschichte wie der Geschichte charismatischer Verbands- und Gemeinschaftsgründerinnen gut verfolgen. Offensichtlich gehört dies konstitutiv zur Logik der kirchlichen Entwicklungen jeder Zeit.

Konziliare Transformationshinweise

Das zweite Vatikanische Konzil hat deswegen sehr exakt beschrieben, in welcher Weise diese Transformationsprozesse die Praxis der Theologie prägen können und müssen. Wenn es nämlich theologisch nicht denkbar ist, die Wandlungsprozesse der Kirche gewissermaßen von außen vorherzusagen und zu prägen, dann bleibt – im Konzil ähnlich wie bei Dietrich Bonhoeffer – ein Zugang, der zum einen existenziell die Lebensperspektive der Christinnen und Christen ins Spiel bringt: Christsein und Christwerden geschieht dann, wenn wir Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit teilen (GS 1) – und so wird auch Kirche neu geboren, wenn sie die Zeichen der Zeit (GS 4) Ernst nimmt und sich auf die Transformationen, die ihre eigene Auflösung/Neugeburt implizieren, einlässt.

Diese Dynamiken als Gemeinschaft zu entdecken und auf diesem Lernweg zu bleiben, darin liegt die synodale Herausforderung gerade in den Zeiten, in denen Kirche sich neu konfiguriert und damit ab- und auflöst aus alten Paradigmen. So formuliert das Konzil: „Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.“ (GS 11).

Diesem Entdeckungsprozess, der konstitutiv synodal ist, geht es um eine Umkehrung der bisher bestandswahrenden Ekklesiozentrik, die sich in den vielen Diskussionen, Polemiken, Restrukturierungsprozessen und schmerzhaften Depressionen erkennen lässt: es bleibt das sich-aussetzen und entdecken, welchen neuen Weg Gott heute mit den geliebten Menschen dieser geistvollen Welt geht, um Kirche neu werden zu lassen. Zweifellos heißt das aber zugleich: entdecken, wie Gott Menschen sammelt und wie Gott loslässt und Auflösung zulässt.


[1] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Dietrich Bonhoeffer Werke 8, Gütersloh 1998, 436.


Die Lust kann einem vergehen. Es hört sich dramatisch an, wenn man von den stetig neuen steigenden Austrittszahlen hört; wenn deutlich wird, dass immer weniger Menschen sonntägliche Gottesdienste mitfeiern; wenn klar wird, dass es normal wird, Kinder nicht taufen zu lassen – und Erstkommunionfeiern von ihrer theatralen Vorführungsperformance gedeutet werden. Welche Zukunft haben wir?

Die Lust wird zum Frust, auch angesichts der institutionellen Grenzerfahrungen in unserer Kirche: der Missbrauchsskandal zeigt auf schreckliche Weise, wie schwierig, ja vielleicht unmöglich ein neuer Anfang in dem gesetzten Rahmen ist. Aber auch Reformerinnen und Reformer sind in institutionellen Fallen gefangen, immer mit dem Gedanken, dass eine Neugestaltung des Bisherigen die Kirche attraktiver machen könnte. Eine fatale und ebenfalls traumatisch anmutenden Illusion. Und in den vielen allzu bekannten Schützengräben von Klerus und Laien, Rom und Deutschland, Progressiv und konservativ lässt sich erfolglos auch noch die nächsten 10 Jahre diskutieren.

Ausbrechen

Die Gefangenheit in den Bildern und Erfahrungsmustern findet sich aber auch in den Herzen und Hirn geprägter Christinnen und Christen, vom Bischof zum Verbandsmitglied. Denn eigentlich wissen wir alle, dass die uns gewohnte Gestalt der Kirche in einem unvermeidlichen Auflösungsprozess ist – und trotzdem träumen viele immer noch, dass es mal wieder so werden soll, wie es niemals war…

Es braucht einen klaren und unverstellten Blick auf die Wirklichkeit und eine ehrliche Wahrnehmung einer Entwicklung, die sich in uns allen seit Jahrzehnten ereignet hat. Und es braucht eine Perspektive, die es ermöglicht Kirche von ihrem Ursprung her in die Zukunft zu lesen.

Ein lang angelegter und notwendender Sterbeprozess

Seit Jahrzehnten ist ereignet sich ein kirchlicher Klimawandel: alles verändert sich, seitdem Christinnen und Christen und alle Zeitgenossen die Freiheit gewonnen haben, die eigene Glaubensüberzeugung jenseits katholischer Aquarien, die sozial und auch institutionell kontrolliert wurden, zu wählen; seitdem Mobilität und innere Freiheit Menschen auf ihren eigenen und unkontrollierbaren Weg führen – seitdem es nicht mehr notwendig ist, einer Kirche anzugehören.  Natürlich gibt es sehr viel Leben und Energie in klassischen Konfigurationen des Kircheseins, aber auch die, die dort agieren, wissen im Herzen, dass es in unserer Kultur kein „Weiter-so“ gibt.

Und das ist nicht schlimm. Denn Wandel und Verwandlung sind Wesensmerkmale des Lebens des Volkes Gottes, eingeschrieben in den Ursprung: ohne Sterben kein Neuwerden, ohne Tod kein Leben.

Der neue Blick

Doch denkt nicht mehr an das, was früher geschah, schaut nicht mehr auf das, was längst vergangen ist! Seht, ich schaffe Neues. Schon sprosst es auf. Merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,18). Prophetisches Reden mitten in der Krise: Gott provoziert sein niedergeschlagenes Volk im Exil. Das Loslassen der Denkmuster und Erfahrungen ist notwendig, damit überhaupt sichtbar werden kann, was gerade geschieht. Denn offensichtlich handelt Gott, handelt sein Geist mitten in der Depression und Fremdheit des Exils, mitten in Schmerz und Zorn über den Verlust der einstigen Selbstverständlichkeiten. Und zugleich wird deutlich, dass es bei der Zukunft nicht um eine menschliche Konstruktion geht: Gott handelt – anders, aber die Zukunft seines Volkes ist schon „da“, weil Gottes Geist schon in Menschen wirkt, weil Kirche neu wächst, entsteht, ur-springt.

Aber der neue Blick wird nur möglich, wenn wir unsere riskanten Fixierungen hinter uns lassen – und wenn wir tatsächlich wahrnehmen können, dass Gottes Geist wirkt und auch heute, unerwartet und unerhört, Kirche werden lässt: das nennt man dann „Glauben“. Und natürlich, das ist ein nach vorne offener Unterscheidungsprozess, der das gemeinsame Wahrnehmen und Hinhören erfordert: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt. Zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind“, so formuliert es prägnant die Konzilskonstitution Gaudium et Spes 11 – und öffnet sich daher für die unendlichen Möglichkeiten und Wirklichkeiten der Zukunft.

Lust auf ein Morgen, das schon heute ist

Wer so hinschaut, erlebt eine Überraschung. Befreit von den Blick- und Denkveränderungen scheinbar normativer (und doch so zeitgebundener) Traditiönchen wie der der „Gemeinde“ kommen neue Orte in den Blick: christlich profilierte Kindertagesstätten sind für viele, Christen wie Menschen anderer Überzeugungen, Orte des Geistes, einer besonderen Atmosphäre und einer Lebenskultur. Das Engagement für Flüchtlinge kann so ein Lebensort des Glaubens sein – ein Chor, eine Initiative, in der Gottes Geist erfahrbar wird, Gebetsgruppen oder Gemeinschaften, die miteinander Glauben teilen, die sich für Nachhaltigkeit und eine Zukunft des Zusammenlebens einsetzen. Wer beobachtet, wie sensibel Menschen für den Segen Gottes sind und wie erfahrungsstark mit einfachen Formen Menschen berührt sind von der Nähe eines Geheimnisses, das sie kaum zu nennen wagen, dann wird deutlich, dass ganz existenziell und vielleicht auch sehr vorübergehend provisorisch Gottes Gegenwart in Gemeinschaft erfahrbar werden kann und Spuren hinterlässt.

Die Chancen des Landes

Vielleicht ist sogar das Land – und nicht nur die Stadt – ein chancenreicher Ort, um diese Entwicklungen wahrzunehmen. Gerade wenn es darum geht, „out oft the box“ und jenseits der einengenden Denkstrukturen und institutionellen Verfangenheiten wahrzunehmen, was neues gelingt, sind die „Ränder“ und das nicht so überstrukturierte Land ein Raum großer Chancen. Gerade da, wo eben nicht mehr der klassische Rahmen einer Versorgungspastoral und einer klerikal-professionellen Dauerbetreuung möglich ist (und vielleicht noch lange von einigen phantomschmerzlich vermisst werden wird), wo die klassischen Rahmungen deswegen kollabieren und sich ein weites unbeobachtetes Feld auftut, könnten neue Formen (ökumenischen) Miteinanders wachsen, Lebenskulturen nachhaltiger Intergenerationalität, neue Formen lebensrelevanter Schöpfungsliturgien, gemeinschaftliche Projekte der Sorge füreinander. Die Freiheit ist groß, die Möglichkeiten hängen daran, ob Menschen selbstverantwortet und inspiriert durch Gottes Geist loslegen und ihren Lebensraum mit anderen gestalten.

Aber dies wird gelingen können, wenn pastoral eine klare Option getroffen wird: es gilt, gerade von Seiten verantwortlicher pastoraler Mitarbeitender Prioritäten zu setzen: auf der einen Seite geht es um Empowerment: das Stärken, Fördern und Begleiten des Engagements all jener Christinnen und Christen, die vor Ort selbständig und geistvoll Kirche gestalten. Begleitung heißt hier Zutrauen in die Gaben und Kompetenzen und damit Freigabe der geistvollen Kreativität, die zu neuen Formen des Kirchesein führt und weiter führen wird. Es ist eine Option für die Förderung der unterschiedlichen Menschen, die mit ihrer Berufung und Energie Kirche der Zukunft gestalten. Und zugleich gilt es, Einheit zu stiften. Nur gemeinsam werden wir Kirche sein – und das meint dann auch, die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit von kirchlichen Formen, liturgischen Feiern und der damit verknüpften Spiritualität als Reichtum zu sehen, die nur in der Begegnung im Geist ihre Verbundenheit deutlich erscheinen lässt.

Eine solch andere Zukunft der Kirche macht Lust, mit dem liebenden Blick des Geistes entdeckt und entschlüsselt zu werden.

Gemeinsam auf dem Weg sein, gemeinsam eine Wahrheit entdecken, gemeinsam neues erfahren – daraus lebt die Verheißung Gottes an sein Volk. Im theologischen Fachchinesisch geht es um die „Synodalität“. Aber was heißt das konkret, dass eigentlich das innerste Wesen der Kirche synodal ist? Und was bedeutet das für die Transformationsprozesse unserer Kirche – und vor allem: was bedeutet das für die vielen wichtigen Themen einer Kirche in der Zeitenwende?

Es ist nicht so einfach, wie populäre Narrative es gerne darstellen: eine Fixierung auf ein Oben-Unten ist nicht einfach zu lösen. Klerikal und antiklerikal unterscheidet sich in der Konzentration auf Kampfthemen gar nicht so sehr. Das Ringen um Macht ist allgegenwärtig. Mit Druck von unten gegen den Druck von oben, egal ob real, gefühlt oder tausendmal traumatisierend erfahren, löst sich die Gefangenschaft in alte Muster nicht auf. Ist also Synodalität ganz einfach Demokratie und Abstimmung? Keine Frage, gegenüber autokratischen und hierarchischen Systemen ist die Demokratie ein enormer Gewinn: Themen und Macht werden ausgehandelt, Kompromisse sind das Ergebnis. Es geht nicht zuerst um Wahrheit, es geht um Durchsetzbarkeit – starke Fortschritte sind nicht zu erwarten, eher kleine. Und es wird geredet. Endlich auf Augenhöhe. Auch das gilt es zu lernen – auch das ist nicht einfach, vor allem dann, wenn Emotionen zu alten Freund-Feind-Metaphern führen, und einander Traditionsvergessenheit oder Traditionalismus vorgeworfen wird. Es ist schwerer zu reden, wenn der andere oder die andere mich für blöd, vernagelt oder einfach nur zurückgeblieben hält.

Diese Übungen, die wir beim Synodalen Weg erlebt haben, sind ein wichtiger Schritt, um eine klerikale Mentalität hinter sich zu lassen. Sie sind ein erster Schritt. Denn Synodalität meint offensichtlich mehr, weil sie nicht auf notwendigen postklerikalen demokratischen Machtausgleich zielt, sondern eine Grundhaltung auf den Weg bringen möchte, die herausfordernd ist.

Eigentlich geht es darum, einen Raum des Hörens zu eröffen: ein Raum, in dem jeder und jede intensiv dem Anderen so zuhört, dass er das Fremde in sich aufnehmen kann; ein Raum, wo wir nicht den Anderen überzeugen wollen, sondern in eine Gemeinschaft treten, die offen ist für allen unbekannte Wahrheiten ist; ein Raum, wo wir darauf verzichten, Besitzer der Wahrheit zu sein, weil die Wahrheit erst entdeckt werden will – von uns allen. Klingt utopisch? Zu wenig praktisch? Zu spiritualisierend?

Vor kurzem ist mir – nach langer Zeit – eine gute Freundin aus den Philippinen begegnet. Sie erzählte vom Synodalen Prozess in Asien. Auf allen Ebenen der Kirche fand ein intensives Austauschen, ein Hinhören und viel Stille statt, an deren Ende das Gehörte zusammengetragen wurde. Ein solcher Prozess, so sagte sie, hat der Kirche neue Hoffnung und Lebenskraft geschenkt: das Hören brachte neue Energien, neue Geistkraft. „Wie ist das bei euch? Habt ihr auch neue Energie gefunden?“, war ihre Frage.

Vielleicht ist das – jenseits aller synodalen Bemühungen – die Frage der Fragen. Denn das gemeinsame Hören, das gemeinsame Entdecken und die gemeinsamen neuen Erfahrungen sind ja für jedes Miteinander von Menschen und von Christen wesentlich. Und am Ende darf immer die Frage stehen: Haben wir erfahren können, dass Gottes Geist uns neues Leben geschenkt hat?

Macht und Territorium. Was für ein Zusammenhang! Auf den ersten Blick scheint es das doch heute gar nicht mehr zu geben. Sofort kommt mir ein Film in den Sinn, der das Ende dieser gewohnten Konstellation fiktiv in die 60er Jahre verlegt. Genauso ist es ja auch soziologisch. Der Film „Chocolate“ mit der bezaubernden Juliette Binoche und den damals noch unbelasteten Johnny Depp illustrierten so wunderbar, dass die Konstellation von Pfarrer und Bürgermeister und ihre Macht über die Christen der Pfarrei zerbricht, wenn von außen neue Personen kommen, die charismatisch einfach machen, was sie spüren.

Und ja, das war ja auch die Zeit, in der kirchensoziologisch sich die katholischen Milieus aufzulösen begannen. Tatsächlich führen Mobilität und die Möglichkeit individueller Biographiegestaltung zu neuen Wahlmöglichkeiten – und eigentlich ist es das Ende einer geschlossenen und einhegenden Pastoral, einfach weil der Großteil der Christinnen und Christen sich immer zuversichtlicher und klarer, mutiger und selbstbewußter gelöst haben aus einer vorgegebenen und ererbten Erfahrung: man muss nicht mehr katholisch oder evangelisch sein, man muss nicht mehr praktizieren nach den Ordnungen der Kirche. Schon in den 60er Jahren erfahre ich in meiner eigenen Kindheit und Jugend diese Auflösungsprozesse – bis dahin, dass sich meine Eltern von der vorgegebenen Pfarrei lösen und dorthin gehen, wo es gute Predigten gibt.

Auflösungsprozesse und doch nicht

In der Reflexion über diesen langsamen und irreversiblen Veränderungsprozess rückte das Bild eines katholischen Aquariums immer mehr in den Blick: in einem geschlossenen Milieu war ein Ausbruch unmöglich. Mangelnde Praxis des Glaubens war sanktionierbar. Einschärfung von Normen und Vorgaben konnten durchgesetzt werden. Gleichwohl werden die „Scheiben“ des Aquariums hochgezogen. Und ja, viele schwammen und schwimmen ins offene Meer. Gleichwohl verlassen einige wenige – heute, viele Jahre später, sind es immer noch mehr als 4 Prozent im inneren Zirkel – den Rahmen nicht. Warum? Warum darf sich ein überkommenes Rahmenparadgma immer noch durchsetzen, in Kopf, Herz und Wirklichkeit.

Wer die eindrückliche Biographie von Ulla Hahn über Jugenderfahrungen im kölschen Katholizismus der 60er Jahre liest[1], der wird sich allerdings wundern, wie diese ambivalente Situation der Loslösung bei gleichzeitiger Restabhängigkeit sich auch 60 Jahre später immer noch zeigt. Vielleicht sogar noch machtvoller…

Auch wenn in restkatholischen Gemeindemilieus die Frage der Macht immer als Hintergrund mitschwingt, manchmal aber auch elegant oder schmerzlich umschifft, intelligent ausgespielt oder klug weggeheuchelt wird – sie gewinnt am Ende dieser Epoche des kontrollierbaren und machtvollen Territorialkatholizismus plötzlich entscheidende Bedeutung: der Schock der Missbrauchsfälle macht deutlich, dass es in der Kirche weiterhin asymmetrische Machtverhältnisse in der pastoralen Alltäglichkeit gibt. Jenseits der schrecklichen Geschehnisse sexuellen und geistlichen Machtmissbrauchs reicht ein Blick in die pastorale Praxis aus, um den falschen Gebrauch von Macht als alltäglich zu erkennen.

Es gibt aber umgekehrt – vielleicht auf Grund vieler vergangener Traumata – auch weiterhin eine merkwürdig klassische Bebilderung des Kirchenverständnisses in vielen Herzen und Hirnen. Dann bleibt vom Leben der Kirche nur noch die hierarchische Struktur, die auch heute noch Macht ausüben kann selbst wenn doch jeder seinen Weg jenseits gehen könnte. Vielleicht ist inzwischen kirchliche Lebendigkeit und der „Leib „so abgemagert, dass nur noch skelettöse Strukturen bleibt?

Das gilt es jedenfalls zu untersuchen. Wie ist in diesem Zusammenhang über Macht zu denken, und wieso ist es immer noch möglich, Kirche als eine hierarchische Machtpyramide zu verstehen? Wieso geschieht das immer noch – von beiden Seiten zweifellos?. Denn Machtansprüche funktionieren ja nur, wenn andere sie zulassen. Allerdings ist die Fixierung auf Machtfragen auch ein Zeichen für das Ende einer spätestens mit Konstantin eingespurten Kirchenkonstellation.

Für den Kontext unserer Fragestellung ergibt sich ein theologischer Horizont und eine Agenda: inwiefern ist Macht und Territorium theologisch und pastoraltheologisch in kirchenentwicklerischer Perspektive neu zu sortieren? Welches ist der eigentliche Sinn einer territorialen Verfasstheit der Kirche? Warum hängt das mit dem Verkündigungsauftrag zusammen? Und inwiefern braucht es ein neues Verstehen von Hierarchie, Gnade und Vollmacht unter dem Horizont konstitutiver Ohnmacht der Sendung.

Bevor wir allerdings hier einsteigen, soll noch einmal deutlich werden, wie – leider immer noch – Bilder nachwirken und Wirklichkeiten prägen, die mit der Freiheit des Evangeliums nichts zu tun haben.

Erfahrungen klerikaler Macht

Ich mag es kaum glauben, was ich da höre: „Weißt du, einige in der Pfarrei wollen mit einem Glaubenskurs beginnen“, erzählt der Pfarrer, „und ja, ich weiß, es ist kein selbstgestrickter, sondern ein gut durchdachter. Aber ich habe mich gefragt, ob das nicht Mehrarbeit für mich bedeuten würde. Und also habe ich den Initiatoren gesagt, dass wir das in unserer Pfarrei lieber nicht machen…“

Ich finde es unglaublich: da werden in einer Pfarrei sorgfältig Beerdigungsleiterinnen ausgebildet, aber dann wird ein Vikar eingesetzt, der gerne beerdigt. Und schon endet der Einsatz…. und das, obwohl der Bischof diese pastorale Ausrichtung im ganzen Bistum für verbindlich erklärt hat.

Mich erschüttert, wenn Gemeindereferenten in größeren pastoralen Räumen ihre Idee eines einheitlichen Kommunionkurses durchsetzen – und lokale Erfahrungen dabei keine Rolle mehr spielen. Arbeitsökonomie und Leistbarkeit gelten hier als nachvollziehbare Begründungen, die von – manchen – Katechetinnen akzeptiert werden: andere gehen.

Es ist sehr erschütternd: „Weißt du, neulich habe ich zwanzig Minuten im Auto gesessen und geweint. Und ich habe mich gefragt: Warum? Und es lag daran, dass ich zum ersten Mal in den letzten Jahrzehnten eine Predigt gehört habe, die mich angesprochen hat – von einem Gastpriester…“ Es gibt tatsächlich Menschen, die das aushalten, hungern und sich verlassen fühlen, aber eben auch ausgeliefert – und bleiben.

Bei einer Begegnung mit einer Gemeinde sitzen mir fünf engagierte Personen. Sie wollen für die Zukunft der Gemeinde neue Wege ausprobieren, damit mehr sich angezogen fühlen. Und plötzlich beginnt eine junge Frau an, zu weinen: „Wissen Sie, wir stehen so unter Spannung, weil der Pfarrer unausrechenbar cholerisch. Er brüllt mich oft an – und auch die Ministranten sind nicht sicher. Und er hat mich fertig gemacht“,  sagt die junge Frau, Managerin in einer großen Bank in der benachbarten Großstadt…

Solche Erfahrungen sind nicht die Regel. Und dennoch nicht selten. Und sie bezeugen – im 21. Jahrhundert – tatsächlich noch eine merkwürdige Abhängigkeit, die genau angeschaut werden will. Warum eigentlich „gehen“ Menschen nicht, wenn sie solche und ähnliche Phänomene erleben. Niemand hindert sie, und doch setzen sie sich einer Macht und einem Machtgebrauch aus, der mit der Gemeindekultur und Pfarreistruktur zusammenhängt.

Heimatlosigkeit und Klerikalismus

Wer in solchen Situationen nach dem „Warum“ des Bleibens fragt, der hört von vielen Engagierten, dass schließlich hier vor Ort „ihre Heimat“ ist, „ihre Gemeinde“, in der sie auch dann ausharren, wenn die Erfahrungen mit Priestern und Hauptberuflichen eigentlich ein Weggehen nahelegen. Hier wird der eigentliche Grund deutlich: es geht bei der klassischen Konfiguration der Gemeinde eben nicht nur um eine Struktur und Form, sondern mit dieser Form verknüpft sich oft auch der einzige erfahrungsmäßig gedeckte Zugang zum Geheimnis der Mitte des eigenen Glaubens – eben die Glaubensheimat. Form und Inhalt des christlichen Glaubens sind oft wesentlich mit der Form gewohnter Gemeindekonstellationen verknüpft: Gottesdienst wird ausgehalten, Konflikte verdrängt und Machtspiele geduldet. Das gilt auch – in außergewöhnlicher Leidensfähigkeit des „heiligen Volkes Gottes“ – gerade auch dann, wenn die Pfarrei nicht als Raum der Freiheit erlebt wird, sondern als beengender Raum, der mit Vorgaben und Normen und willkürlicher Gebote gepflastert wird: Verpflichtende Gottesdienstbesuche, keine Variabilität bei der Feier der Sakramente, undurchsichtige Vorgaben und willkürliche Verweigerungen, die anderswo schon Standard sind.

Das Systemgefüge des Territoriums ist offensichtlich hier erfahrbar als Raum asymmetrischer Machtbeziehungen: weil die Verantwortlichen „zuständig“ sind, ist man ihnen ausgeliefert, dann wenigstens, wenn man nichts anderes kennt.

Denn eigentlich schon immer war die Pfarrei als territoriale Grundeinheit pastoraler Sorge nicht der exklusive Ort kirchlicher Existenz: Wallfahrtsorte, Ordensgemeinschaften (in Hülle und Fülle), geistliche Gemeinschaften, Bruderschaften und andere charismatische Aufbrüche standen Menschen frei, die auf der Suche nach ihrer Glaubenserfahrung und Glaubensheimat waren und sind.

Und zugleich wurde durch die sakramentale Versorgungslogik und ihre scheinbar normativen Vorgaben wie die Sonntagspflicht, die „Formpflicht“ im Blick auf das Ehesakrament, die zunehmende Bevormundung im Blick auf die Sakramentenvorbereitung (Taufe, Erstkommunion, Firmung), die den Eltern nicht mehr die religiöse Sozialisation zutraut, die eigentliche Grundperspektive und der Sinn einer territorialen Struktur umgekehrt: Sinngebend wurde nun Kontrolle, damit alle richtig und recht glauben. Je mehr Glauben nicht gegründet war in einer persönlichen Glaubenserfahrung, sondern in einer sozial kontrollierbaren Konvention, die von Generation zu Generation vererbt wurde, desto klarer war ja auch, dass es eine Kontrolle geben musste, damit der Pflicht genüge getan wurde – Inhalte waren nicht so wichtig: Beichte und Kommunionbildchen, Predigtabfrage im Religionsunterricht, sonntägliche Präsenzpflicht – für alle Pfarrangehörigen. So wurde das Pfarrsystem zum Kontrollsystem.

Und tatsächlich reagierten und reagieren Pfarrer zum Teil – manchmal bis heute – mürrisch, wenn Pfarrangehörige andere Orte als geistliche Heimat finden, die „außerhalb“ des Territoriums liegen: werden hier nicht Jugendliche und Erwachsene „abgezogen“?

Wenn man aus dieser Perspektive schaut, dann wird deutlich, dass mindestens in der Praxis die Pfarrei – in einer durchklerikalisierten und durchhierarchisierten Kirche, die aus der Logik von Herrschenden und Untergebenen funktionierte – zu einem Territorium wurde, das als Weide zu verstehen ist: eingezäunt und von Hirten geführt erleiden die Schafe kein Unheil. Die wilden Schafe gilt es einzufangen, und gut zu weiden, wenn auch mit klaren Sanktionen – ähnlich einem elektrischen Weidezaun.

Umgekehrt gibt es natürlich auch sehr viele positive Erfahrungen: der gesteckte territoriale Rahmen ermöglicht eine Örtlichkeit und Nähe, die Beziehungen ermöglicht und Anonymität verhindern könnte. Gelungene Einbindung vieler Menschen geschieht in überschaubaren und beziehungsreichen Zusammenhängen (digital wie analog). Gemeindefeste, gemeinsame Initiativen und Gruppen leben aus einer räumlichen Nähe. Gemeinschaft wächst nicht abstrakt. Die seit Jahrzehnten starken Proteste gegen die „Fusion von Pfarreien“ und die Bildung von „Pastoralen Räumen“ machen deutlich, wie sehr nicht wenige Menschen einen beziehungsreichen Raum suchen, wo Vergemeinschaftung und gemeinsame Initiative erst möglich wird.

Zu frage ist hier also, ob dieser Ertrag und diese positive Perspektive zusammenhängt mit der zugleich abgelehnten Kontroll- und Machtperspektive, die die Rede von Territorium als Zugehörigkeitsort mit sich bringt.

Hier wird die merkwürdige Janusköpfigkeit der territorialen Erfahrung in den Blick zu nehmen sein: sie ist wichtig, weil Christsein und Christwerden immer in konkreten Beziehungsverhältnissen und also örtlich (oder vielörtlich) geschieht – sie wird zur Grenze, wenn Machtverhältnisse einengend wirken. Die Frage ist fundamental: kann es auch anders gedacht werden, ohne im Binom Beziehungsreichtum und Kontrollmacht stecken zu bleiben?

Neu fragen lernen

Offensichtlich: Denn nachdem 99 der 100 Schafe das Weite gesucht haben und Grenzzäune ohne jede Sanktion übersteigen konnten, vielleicht auch weil sie gar nicht wirklich vorhanden waren, und wenn sie eine neue Weite und neue Orte gefunden haben oder vielleicht auch noch auf der Suche nach Selbstversorgung oder guten Orten sind, stellt sich die alte Frage neu: ist die Idee des Territoriums und der Gemeinschaft des Volkes Gottes in diesem territorialen Bereich tatsächlich auch theologisch (und kanonisch) eine Machtfrage. Geht es um Kontrolle? Geht es um die Stabilisierung von asymmetrischen Machtverhältnissen einer pyramidal von oben nach unten durchkonstruierten Kirche?

Selbst wenn diese Perspektive – eingebunden in gesellschaftliche Parallelen und tief gegründet in traumatische Erfahrungen – leitend ist, wenn selbst in einer binnenkirchlichen wie nachchristlichen Öffentlichkeit diese Bilder immer noch erkenntnisleitend und prägend-abschreckend sind, selbst wenn auch die Zukunft des Christentums von einer solchen Perspektive gesehen und entsprechend polemisch und gegenabhängig bekämpft wird, dann muss nun doch tiefer gefragt werden: entspricht diese erfahrene und dysfunktionale Wirklichkeit der Grundidee einer territorialen Seelsorge? Und wie kann angesichts der gewachsenen und geistgewirkten Freiheit vieler Christinnen und Christen eine territoriale Perspektive neu gegründet und begründet werden?

Eine Antwortskizze soll gewagt werden.

Von der Sendung her denken

Es kommt auf den theologischen Ausgangspunkt an: Ist die Kirche zuerst eine Sammlungsbewegung, dann wäre ja klar, dass es um Sammlung und Einhegung der Gesammelten geht, die dann betreut werden müssen. Biblische Bilder wie das von „Hirt und Herde“ können gerne so ausgelegt werden, wenn man dann – theologisch unterkomplex – die Bischöfe und Pfarrer und ihr Personal als die Hirten sieht, die die Herde – das Volk –  zusammenhalten sollen. Der „Dienst an der Einheit“ kann dann ganz schnell zu einem machtförmigen Kontrollmechanismus verkommen. Siehe oben.

Theologisch gilt aber: Gott sammelt sein Volk, er ruft Menschen in seine Gemeinschaft und baut seine Kirche auf. Er sammelt Menschen und ruft sie, das Evangelium zu verkünden. Es geht darum, dass die frohe Botschaft alle Menschen anrühren, prägen und verwandeln kann: „Geht hinaus in die ganze Welt…“ (Mt 28, 20). „Wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich euch…“ (Joh 20, 19-23).

Um diese Sendung zu allen geht es. Und wenn es einen Auftrag an die Apostel gibt, und wenn es eine Ausbildung von Ämtern geht, dann geht es bei den ausgesandten Aposteln, den Wanderaposteln in der Zeit des frühen Christentums und schließlich auch bei den „Episkopoi“ um die Frage, wie das Evangelium und damit die Wirklichkeit der Geisteskraft allen Christen und allen Menschen zuteil wird.

Kirche wird also hier nicht als strukturierter „Herrschaftsraum“ über Christen gesehen, sondern als der Raum, in dem die geistvolle und sich schenkende (und also sakramentale)  Wirkkraft des Evangeliums Menschen erreichen kann, sie stärkt und verwandelt. Wer Christ, wer Christin geworden ist, bedarf dieser Kraft immer wieder neu, um seinen mystagogischen Weg in das Geschehen des Reiches Gottes mitten unter uns erleben, erfahren, erlernen zu können.

Und deswegen geht es beim „Amt“ und „Aufträgen“ immer nur darum, wie die ursprüngliche Lebenswirklichkeit des Reiches Gottes, wie das Evangelium bei Menschen ankommen kann. Diese „amtliche Konfiguration“ versteht sich als Fortsetzung eines Auftrags, der immer wieder – und nur – die Vergegenwärtigung des Ursprungs ermöglicht: das „Heil“ verstanden als zu verkündende Grundwirklichkeit ist Inhalt dieses Auftrags. Sichtbar wird dies in den Sendungsgeschichten etwa bei Lukas (Lk 9,1-6 und besonders Lk 10, 1-11): die Sendung hat zum Ziel, die Wirklichkeit des Gottes, die die Tiefendimension alles menschlichen Lebens ist, ins Licht zu rücken und ins Spiel zu bringen, weil hier Heil, Freiheit und Leben zu erfahren ist.

Wenn in diesem Kontext von „Vollmacht“ die Rede ist, dann ist einerseits klar, dass diese Vollmacht nichts mit „menschlichen Machtspielen“ zu tun hat – das Evangelium spricht hier eine deutliche Sprache: es ist offensichtlich eine menschliche Versuchung, aus diesem Dienst eine Machtposition zu zimmern. Die Folgen sind durch alle Zeiten schrecklich sichtbar, haben aber mit dem Grundvollzug der Sendung nichts zu tun: Die Macht ist hier die Kraft jenes Geistes, die sich ereignen kann in Menschen – hier wäre Sakramentalität neu zu durchdenken.

Ähnliches gilt dann auch für alle institutionellen Strukturen. Sie haben theologisch wie pastoral nur einen Sinn: einen Ermöglichungsraum schaffen, der die Sehnsucht, den Hunger, die Leidenschaft für das Evangelium fördert, entzündet, Herzen brennen lässt (Lk 24) – und dies, damit die Sendung und Mission weiter gehen kann. Die „hierarchische“ Struktur darf dann eben nicht – wie die ständigen Fehlformen durch die Geschichte belegen – in asymetrischen Oben-Unten Strukturen verstanden werden, wie sie in der bekannten Klerus-Laien Konfiguration immer noch fröhliche und polemische Urstände feiert. Die Herrschaftstruktur von Profis und Laien, lehrender und hörender Kirche, betreuender und helfender  (Ehrenamtliche als Helfer?) Kirche führt zu einer Deformierung der Idee: eigentlich geht es darum, dass Christinnen und Christen einen Recht auf den „heiligen Ursprung“ haben, aus dem sie ja leben. Hierarchie soll also eigentlich sichern helfen (wenn das denn geht), dass die echte Botschaft, die echte Grundwirklichkeit und ihre Erfahrung die Menschen erreicht.

Man sieht: da hat sich in der Tat – und unfehlbar schnell – jene Deformation der DNA einer kirchlichen Grundgestalt ereignet, die jenseits der Grundidee die Kirche zum Ort der Machtversuchungen und der Machtspiele machte. Siehe oben.

Jenseits der Einzäunungen…

Positiv gesprochen würde dann eine neue Theologie der Pfarrei (und auch des Bistums) die geprägten Verhältnisse auf den Kopf stellen. Nicht das Territorium und seine Herrschaftsverhältnisse stehen dann im Fokus, es geht nicht um die Frage, wer hier wem zugeordnet und untergeordnet ist, sondern es geht um Grundrechte der Christinnen und Christen: das Recht auf eine Verkündigung des Evangeliums, das Recht auf die Teilhabe an der sakramental gefassten Wirklichkeit des Reiches Gottes spiegeln die Notwendigkeit, Anteil am geschenkten Leben des Reiches Gottes zu haben, ohne die Nachfolge und Sendung nicht gelebt werden können.

Pfarrei ist – ja – ein Territorium, aber hier geht es nicht um Einhegung, sondern um Ermöglichung christlicher Existenz. Die institutionellen Strukturen sollen dieser Ermöglichung dienen, das Amt steht im Dienst an dem von Gott gesammelten Volk und eint es durch  diesen Dienst. Gott ist der Handelnde, wie Lumen Gentium 4 auf konzilstheologisch formuliert: „Der Geist wohnt in der Kirche und in den Herzen der Gläubigen wie in einem Tempel (vgl. 1 Kor 3,16; 6,19), in ihnen betet er und bezeugt ihre Annahme an Sohnes Statt (vgl. Gal 4,6; Röm 8,15-16.26). Er führt die Kirche in alle Wahrheit ein (vgl. Joh 16,13), eint sie in Gemeinschaft und Dienstleistung, bereitet und lenkt sie durch die verschiedenen hierarchischen und charismatischen Gaben und schmückt sie mit seinen Früchten (vgl. Eph 4,11-12; 1 Kor 12,4; Gal 5,22). Durch die Kraft des Evangeliums läßt er die Kirche allezeit sich verjüngen, erneut sie immerfort und geleitet sie zur vollkommenen Vereinigung mit ihrem Bräutigam.“

Damit wird klar: nicht ein Amtsträger, eine Hauptberufliche oder irgendwer sammelt hier das Volk Gottes (und hätte Auftrag und Macht dazu), sondern das Volk ist gesammelt durch den Ruf Gottes und erwartet geschenkte Lebendigkeit, um die Sendung in der Weltwirklichkeit zu leben. Natürlich wachsen aus dieser Sendung Erfahrungen der Kirche (nicht umsonst sprechen die Anglikaner von einer „mission shaped church“). Es wächst aus dieser Kraft Gemeinschaft, ja Gemeinschaften unterschiedlichster Form und Art (wieder die Briten: „mixed economy of church“), die den „Verjüngungsprozess“ der Kirche (siehe LG 4) und also die zeitgemäße Vergegenwärtigung der Reich-Gottes-Erfahrung ermöglichen.

Von der Zukunft ohnmächtiger Verkündigung

Wer sich allerdings, wie hier vorgeschlagen, von einer gewöhnlichen Territorial- und  Machtlogik abwenden will, wer vom Evangelium aus Abschied nimmt von einer machtvoll pelagianischen Idee der Verkündigung, die ankommen muss, weil die Zäune verunmöglichen, sich anderswo umzusehen, wird auch erfahren, dass dann Sendung und Verkündigung nur noch funktionieren, wie es schon die Sendungsberichte aus dem Lukasevangelium nahelegen. Machtlos und konstitutiv ohnmächtig geht Verkündigung dann, wenn sich Begegnung ereignet und jener Raum sich öffnet, in dem sich die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes ereignen kann. Jenseits machtvoller Einzäunungen und jenseits erwünschter Glaubensweitergabe wird Verkündigung wieder das, was sie ist: Gnade, die nie in der Hand von Menschen sein kann; Wunder und Geschenk des Sich-ereignen des Reiches Gottes.

Dieses Abenteuer des 21. Jahrhunderts (wie aller Jahrhunderte) liegt gerade dann vor uns, wenn wir endlich verzichtet haben, Macht und Territorium mit den Grundhaltungen des Evangeliums zu verwechseln.


[1] Siehe Ulla Hahn, Das verborgene Wort, München 2003.

Um was sich alles dreht
Überlegungen zur Kirchenentwicklung

Kirchenentwicklung – worum geht es da eigentlich? Schon lange spüre ich – gerade auch in diesen polarisiert-aggressiven Zeiten der Veränderung, in der auch der auch der gesellschaftsübliche Populismus kirchlicher Normalfall wird – , dass wir uns scheinbar oft „am Rand“ aufhalten, wenn wir von Kirchenentwicklung sprechen. Dann reden und planen Menschen von Strukturveränderungen, dann rückt die Institution und ihre Reform in die Mitte, dann wird alles versucht, eine bestimmte Kirchengestalt zu optimieren oder neu aufzustellen, um sie zu behalten und zu erhalten. So wichtig das ist, die Mitte dieses Prozesses ist es nicht.

Dazu kommt: Normalerweise sind diese Veränderungen mit Zorn und Wut, und oft mit Aggressionen, verbunden. Für die einen, weil es nicht schnell genug geht – für die anderen, weil es zu langsam geht und der Geduldsfaden schon lange gerissen ist. Für viele aber ist Veränderung bedrohlich – denn sie raubt eine Heimat, eine Erfahrung, die so eng mit Strukturen und Formen, Praxen und Erlebnissen verbunden ist, dass der Verlust und Veränderung auch die prägende Ursprungserfahrung im Glauben zu rauben scheint. Und für viele anderen führen die vielen (und oft schrecklichen) Traumata in eine oft unerträgliche Atmosphäre kirchlicher Auseinandersetzungen. Für viele andere ist Veränderung schlicht notwendig, denn der ursprüngliche Kern des Glaubens ist in ihrer Perspektive schon lange abhanden gekommen.

Beispiele gibt es auf allen Ebenen: wenn in einer Kirchengemeinde statt einer gewohnten Messe ein Wortgottesdienst gefeiert wird – oder die Messe zu einer anderen Zeit gefeiert wird, dann verweigern sich nicht wenige. Eine Tradition ändert sich – und eigentlich bräuchte man nur einen kleinen Schritt tun, aber das scheint nicht zu gehen; wenn Pfarreien „fusioniert“ werden, haben – so meine Erfahrung – Menschen den Eindruck, ihre eigene Gemeinde wird aufgelöst. Sie mag noch so zerbrechlich und klein sein, das ist eine Katastrophe. Und wenn Kirchgebäude geschlossen werden, wenn eine Gemeinde keinen eigenen Priester mehr hat, wenn die gewohnten Traditionen zerbrechen, dann geben Menschen auf einmal auch ihre kirchliche Praxis auf, verschwinden im ekklesialen Niemandsland.

Diese Unruhen verweisen auf den tiefgreifenden Transformationsprozess, der unaufhaltbar im Gang ist. Die Emotionen und Traumata und die damit verbundenen Aggressionen machen deutlich, wie radikal der Bruch ist – und sie spiegeln sich überall: in der Unzufriedenheit der Priester und Hauptberuflichen, die in der Mitte dieser Umbrüche stehen und deren eingeübte Rollenbilder ins Wanken geraten; in der ausbalancierten Unentschlossenheit der Bischöfe, die zum einen wissen um die Notwendigkeit des Wandels, aber auch die schweren Verluste scheuen, die der Wandel mit sich bringen wird; bei den Ehrenamtlichen, die sich überfordert, ja ausgenützt fühlen – und denen jede kirchliche Konstellation fremd geworden ist.

Optimierung, Anpassung und Weiterentwicklung, geordneter Rückbau, radikale Modernisierung oder rastloser Erhalt der Kirchenwirklichkeit – das hat allerdings für mich noch wenig mit der Mitte der Kirchenentwicklung zu tun, wenn man nicht tiefer schaut. Es bleibt an der Oberfläche der Verwandlungsprozesse. Und auch wenn die Aufarbeitung des Missbrauchs, die partizipative Umgestaltung der Machtverhältnisse, wirksame Synodalität und die Neuordnung der Ämter in der Kirche gelingen würde, dann wären wir noch nicht zwangsläufig angekommen in der Mitte und im Kern der Kirchenentwicklung, um die sich eigentlich alles dreht.

Kirchenentwicklung tiefer verstehen

Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, ist eine Wirklichkeit des Geistes Gottes, die sich in jeder Zeit eine neue Gestalt suchen wird und muss. Kirche – das ist ein Werkzeug und ein Zeichen für die kraftvolle Verkündigung und Vergegenwärtigung der frohen Botschaft, und damit ist es klar, dass sie sich ändern wird, ja muss, wenn sich Epochen wandeln.

Das ist aber nicht einfach planbar und machbar – eher gilt es, diese Zeichen der Zeit zu deuten und sich auf den Weg zu machen, den Geist Gottes, der in den Menschen wirkt, zu entdecken und zu entschlüsseln.

Kirchenentwicklung zeigt sich dann als ein Wirken Gottes durch die Menschen, die – in ihrer Geistbegabtheit – in jeder Zeit neue Wege wagen, neue Gestalten ausprobieren müssen und auch mit ihren Gaben bestehende Wirklichkeiten und Strukturen neu beseelen. Kirchenentwicklung dient nämlich nicht der Kirche selbst, sondern der Bezeugung der frohen Botschaft von der Gegenwart Gottes.

Von daher war die Idee einer lokalen Kirchenentwicklung, wie sie vor mehr als 10 Jahren im Bistum Hildesheim auf den Weg gebracht wurde, vor allem und zuerst als ein geistvoller Unterscheidungsprozess  konzipiert. Die innerste Mitte dieses Prozesses orientierte sich an der prophetischen Perspektive des Jesaja, der inmitten der Krise des Volkes Gottes im Exil die Worte Gottes neu zur Geltung bringt: „Schaut nicht auf das, was längst vergangen ist, auf das, was früher war, sollt ihr nicht mehr achten. Seht, ich schaffe Neues, schon sprosst es auf – merkt ihr es nicht“ (Jes 43,18). Die innerste Mitte dieser kirchenentwicklerischen Perspektive ist der Glaube, dass in und durch die Menschen, Situationen und Zeiten Gottes Gegenwart, seine Wege und sein erneuerndes Handeln erkennbar werden kann. Synodalität – das gemeinsame Hinsehen und -hören, das gemeinsame Unterscheiden und Handeln – ist dann als gemeinsamer Prozess im konkreten Handeln wirksam: neue Formen der Gemeinschaft, die sozialraumorientierten Experimente, die spirituelle Tiefe, das Vertrauen in Gottes Handeln kennzeichnen dann einen beständigen Prozess des Wandels.

Das Wandlungsgeheimnis

Allerdings: diese kirchlichen Entwicklungsprozesse sind keine linearen Prozesse, sie sind auch nicht einfach eine Ablösung des Alten durch etwas Neues, das Menschen ausdenken und gestalten können. Es ist radikaler, weil es das Geheimnis von Tod und Auferstehung spiegelt. Kirchenentwicklung ist also immer auch ein schmerzhafter Prozess des Sterbens. Die Wirklichkeit verändert sich nicht nur ein bisschen, sie ist in radikaler Transformation. Das Neue ist nicht die Weiterentwicklung des Alten, sondern das Werden einer neuen Wirklichkeit durch das Zugrundegehen des Bisherigen.

Das ist die Herausforderung. Und genau das spürt man ja auch. Die Emotionalität des Zorns und der Trauer, der Verzweiflung und der Ratlosigkeit spiegeln oft genau die Schwierigkeit, das Zu-ende-Gehen einer bestimmten Form des kirchlichen Lebens zu akzeptieren und auszuhalten. Sterben hat mit Loslassen und Vertrauen zu tun – und das kann nur gelingen, wenn neue Erfahrungen ein Vertrauen in das Wirken Gottes möglich machen – eines Gottes, der alles neu ins Leben rufen will, der neue Wege mit seinem Volk gehen will.

Die Versuche, das kirchliche Setting zu bewahren oder zu optimieren, die Leidenschaft, das gewohnte wieder funktional zu machen – all das ist also verständlich, wenn Kirchenentwicklung lediglich ein konstruktivistischer Prozess wäre, der der Weiterentwicklung des Bisherigen gilt. Wenn die Mitte kirchlicher Entwicklungsprozesse aber das Geheimnis von Tod und Auferstehung ist, dann gehört der Schmerz und die Trauer über das Sterben zwar dazu, wird aber zum Weg, das Neue zu entdecken.

Letztlich ist also die innere Mitte der Kirchenentwicklung das Geheimnis der Gegenwärtigkeit des Ostergeheimnisses, der Gegenwart Gottes im Sterben und Neuwerden.

Die geheimnisvolle Gegenwart Gottes

Die Mitte ist also ein Geschehen, ein Weg durch den Tod in eine neue Wirklichkeit. Vor allem aber ist die Mitte der Kern und Stern kirchlichen Lebens überhaupt: die Gegenwart des Gekreuzigten und Auferstandenen, der die Herzen der Menschen prägt, berührt und bewohnt – eine Gegenwart „zwischen“ den Menschen. Mit Dietrich Bonhoeffer formuliert: „Christus als Gemeinde existierend“.

Und wenn alle Formen und Gestalten, an die Menschen in ihrem Glauben und in ihrer Kirchenerfahrung hängen, bewußt oder unbewußt die geheimnsvolle Gegenwart meinen, die ihr Herz berührt hat, dann wird nachvollziehbar, warum das Sterben und Vergehen bestimmter Formen des kirchlichen Lebens und der Gemeinschaft, an die doch die eigene Erfahrung hing, so schmerzhaft emotional ist – dann wird auch deutlich, warum die Zusammenführung von Pfarreien nicht nur Heimatverlust, sondern auch Verlust der Grunderfahrung bedeuten.

Und wenn die Art und Weise des Kircheseins den Ursprung und die Wirklichkeit der Christusgegenwart verdeckt und nahezu unkenntlich verzerrt, dann wird die Heftigkeit der Auseinandersetzungen, die emotionale Mächtigkeit der Forderungen nach anderen Strukturen und Formen nachvollziehbar: der offensichtliche strukturelle Machtmissbrauch und die damit verknüpften Fälle des sexuellen Missbrauchs machen ja genau deutlich, dass die Gleichwürdigkeit aller Getauften, die Fragen um die Ausgestaltung der Ämter, die Rolle der Frau in der Kirche und andere Fragen, wie sie etwa auf dem Synodalen Weg eine zentrale Rolle spielten und spielen, nicht nur die Ausgestaltung der kirchlichen Wirklichkeit betreffen, sondern eben auch die Sehnsucht nach dem Kern der Grunderfahrung betreffen, mag das bewußt oder unbewußt sein.

Und umgekehrt gilt: wenn konservative und charismatisch geprägte Kreise durch solche Veränderungsprozesse die Substanz des Glaubens und der Tradition bedroht sehen, dann geht es auch hier darum, dass Formen und Gestalten, Denkmuster und theologische Traditionen bewußt oder unbewußt den Kern und den Ursprung des Glaubens – die Gegenwart des Auferstandenen – bewahren. Hier allerdings gilt dann: nicht die Veränderung, nur das unbedingte Festhalten bewahrt die Ursprünglichkeit der Grunderfahrungen.

Dies wirft – noch einmal – ein helles Licht auf die Ereignisse unserer kirchlichen Gegenwart, auf die Polarisierungstendenzen auch in der Kirche, auf die unversöhnliche Polemik zwischen sogenannten Konservativen und Progressiven – und also auf die zuweilen schier nicht aushaltbaren Spannungen und Exkommunikationsanstrengungen von allen Seiten. Diese Spannungen deuten dann einerseits – so hier die These – auf die geheimnisvolle Mitte hin, die unbedingt bewahrt oder neu gefunden werden will.

In der Erfahrung Seiner Gegenwart leben können und wollen

Aber andererseits gilt auch: wenn es in der Kircheentwicklung um die verborgene und doch eigentliche Mitte geht, die österliche Dynamik und geistvolle Gegenwart des Auferstandenen, dann stellen sich doch Fragen an die Art und Weise wie in den sich zeigenden Veränderungsprozesse das Miteinander der Christinnen und Christne gelebt werden könnte, aber oft nicht wird.

Die Art und Weise, wie heute die unterschiedlichen Polarisierungen, die unterschiedlichen Auffassungen über Veränderungen miteinander ausgetragen werden, stellt in Frage, ob es hier wirklich um die innere Mitte des Kircheseins und des Kirchewerdens geht: so sehr die Emotionalität und radikale Positionierung verständlich sein können, weil auf allen Seiten der „Kern“ und die „Mitte“ bedroht zu sein scheinen, so sehr ist doch die Art und Weise, mit der jeweils anderen Sichtweise umzugehen gerade nicht Ausdruck der gemeinsamen Mitte.

Wechselseitige Unterstellung der Häresie und der Verdunkelung des Evangeliums entsprechen in keiner Weise dem Kern der Christusgegenwart und der österlichen Dynamik des Geistes. Sie bezeugen eine Art der Polarisierung, die ohne jede Mitte auskommt und die eigene Positionierung als machtvolle Unfehlbarkeit beschreibt.

Genau dann aber wird unglaubwürdig, dass es tatsächlich um den Kern und um die Mitte geht. Es geht dann tatsächlich um Machtverhältnisse und Formen der Durchsetzung – und genau hier gilt es zu lernen.

Synodale Prozesse, wie sie weltkirchlich eingeübt werden, sind hier eine entscheidende Lernplattform. Sie nehmen ernst, dass alle Beteiligten in ihrer Leidenschaft für Formen (und ihrer Bewahrung) oder ihrer Leidenschaft für (notwendige und notwendende) Veränderung sich gründen in einer Gemeinschaft, deren gemeinsame Mitte Christus selbst ist: „Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“, so formuliert es Paulus im Galaterbrief – und das setzt eine Existenz frei und macht sie möglich, die Unterschiede und unterschiedliche Perspektiven in Beziehung setzt zur gemeinsamen Ursprungserfahrung und deswegen nicht nur von Einmütigkeit träumt und visioniert, sondern sie zum Ausgangspunkt des gemeinsamen Nachdenkens macht: „Wenn es also eine Ermahnung in Christus gibt, einen Zuspruch aus Liebe, eine Gemeinschaft des Geistes, ein Erbarmen und Mitgefühl, dann macht meine Freude vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig, einträchtig, dass ihr nichts aus Streitsucht und nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst. Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das der anderen.“ (Phil 2, 1-4) Sich einzulassen auf den Anderen, die Position des Anderen auf dem Urgrund des gemeinsam geteilten Glaubens wahrnehmen und verstehen zu können, hinzuhören auf diese Mitte und sich die nächsten Schritte gemeinsam zuspielen zu lassen – vielleicht ist es genau das, was der schmerzhafte Veränderungsprozess auf allen Ebenen der Kirche braucht. Die Mitte der Kirchenentwicklung ist also nicht nur das Wahrnehmen der Gegenwart des Auferstandenen, der alle eint, sondern auch eine entsprechende Existenzform gegenseitiger Annahme und Wahrnehmens, in der das Werden und das Entwickeln kirchlichen Lebens gefunden werden kann. Diese Weise der Synodalität bezeugt damit selbst die Mitte, um die sich alles dreht.

Gestern, im Lüchtenhof (https://www.luechtenhof.de/) haben wir das Fest Maria Lichtmess als Fest des Lichtes, des Lüchtes, gefeiert mit Sarah Brendel und ihrer fantastischen Musik, Anne Dubber und ihren tiefen Bildern. Und bei dieser ungewöhnlichen liturgischen Performance durfte ich die Ode an das Lücht vortragen und dabei die Seminarkirche ins Licht tauchen – beim Anzünden der Kerzen aller Teilnehmenden. Hier der Text

Eine Ode an das Lüch
Lücht
Ein Lobgesang
Eine Ode
Ein Lichtspiel
Ein Weg

Am Anfang war das Licht
Eigentlich noch vor dem Anfang
Mit dem Licht fängt alles an
Gott ist Licht
Und keine Finsternis in ihm

Sagt Johannes
Und deswegen
Ist die Welt aus Licht gebaut
Es werde Licht – und es ward Licht
Das sind die ersten Schöpfungsworte

Und Johannes sekundiert
In ihm – in dem Wort, das schon am Anfang war und ist –
In dem Wort, 
– der Konstruktion, der Logik, der Architektur der Schöpfung,
die mehr ist als Idee, als Gedanke,
sondern Ideengeber, persönliche Ansprechende, Kreative und also Person

In diesem Wort ist Leben und Licht
Dieses Wort ist Leben und Licht
„Alles ist durch das Wort geworden
Und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist
In ihm war und ist das Leben und das Leben ist das Licht der Menschen
Es leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“

Licht
Ein Lobgesang
Eine Ode
Das alles klingt zunächst abstrakt
Bedacht, irgendwie meta
Aber so ist es ja nicht.

Denn die Wirklichkeit ist so
Wir erleben es so
Es ist unser Leben
Unser Licht
Ohne Licht, dieses Licht
– Nicht das Neonlicht, nicht das Lampenlicht, nicht das Kerzenlicht und mehr als das Sonnenlicht –
Ohne dieses Licht kein Leben, keine Verpuppung des Menschen, keine Verwandlung zu mehr Leben
Ohne dieses Licht keine Farben, kein Sehen, kein Staunen, kein Wachsen, kein Sterben und kein Auferstehen
Wie wir sie in den Bildern von Anne Dubber gesehen haben
Ohne dieses Licht kein Leben, nur Tod

Und umgekehrt
Da wo dieses Licht ist
In uns
Zwischen uns
Um uns
Ist Leben
Dort wo Licht ist, ist das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis, das wir Gott zu nennen wagen
Ja – Gott ist sein Name
Name des Geheimnisses, das sich zeigt als Licht, als Leben, als Kirche
Als Liebe
Als Liebe
Und wir kennen es alle

Und was Johannes und alle vor ihm und nach ihm geschrieben haben, ist unsere Erfahrung
Was ist ein Leben ohne Licht
Was ist ein Leben ohne Leben
Was ist ein Leben ohne Liebe
Eine Nacht ohne Sterne?
Nichts
Nichts!
Nichts!!
Zu wenig
Zu dunkel
Zu lebensmüde
Zu winterlich
Zu nächtlich

Nichts

Licht
Ein Lobgesang
Licht
Eine Ode
Licht
Mein Leben
Unser Leben

Dass wir hier heute feiern
Dass wir hier heute leben
Dass wir uns hier heute als Menschen zusammenfinden
Das hat zu tun mit der Erfahrung, der Entdeckung, der Offenbarung und Freilegung des Lichts in der Welt
Denn das Licht
Das immer ein Geschenk ist
Geschenkt ist
Ist uns nicht äußerlich geblieben
Uns Menschen
Uns Suchenden
Uns Findenden
Uns Sehnenden
Uns von Finsternis und Düsternis immer bedrängten
Es ist uns inne geworden

Innerlicher als wir uns selbst sind
Ganz wir selbst
Das Licht hat uns nicht nur von außen durchstrahlt und erwärmt

„Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet
Kam in die Welt.
Er war in der Welt
Und die Welt ist durch ihn geworden“

Und er ist in jede Finsternis gegangen
Hat alle Finsternis durchdrungen
Ist in jede Finsternis gegangen
Und die Finsternis, die Dunkeltheit wurde zum Ort Seiner Gegenwart
Und jede Dunkelheit wurde zum Weg zum Licht

An Weihnachten
Feiern wir das Licht, das Kind geworden ist
Mensch, so sehr,
Dass Licht und Menschen eins geworden sind

Die Hirtinnen und Hirten, die Armen
Haben es gespürt
Haben dem Wunder getraut
Das Licht ist Mensch geworden
Die Sterndeuter und Sterndeuterinnen, diese Intellektuellen
Sind dem Stern, dem Licht am Himmel gefolgt
Und haben das Licht auf der Erde gefunden
Im Menschen selbst
Haben es geglaubt
Und eingestimmt in die Ode
In den Lobgesang
Dem Singen von Engeln und Waisen,Dem Rufen von Schafen, Hirten, Hirtinnen
Dem Summen einer Mutter, eines Vaters,
Dem Schreien eines Kindes

Ein Chor
Eine Ode
Ans Licht

Und heute 40 Tage später,
an Mariä Lichtmess,
erinnern wir uns an die junge Frau, Maria,
die ihr Kind zum Tempel bringt,
Und an die beiden Alten, Simeon und Anna, denken wir,
die, die ihr Leben lang suchten,
Und wie sie diesem Kind begegnen,
Licht auf seinem Gesicht entdecken
von innen her,
Sich gefunden wissen in dem Moment

Weil das Licht in ihnen Sehnsucht nach dem Licht hat
Weil das Leben in ihnen nach Leben sucht
Ruft Simeon im Angesicht dieses Kindes
„Meine Augen haben das Heil gesehen“
„Gesehen“
Erfahren
Erlebt
Heilsam
Gespürt
Berührt
Nicht nur bedacht – das war früher

„Ein Licht, das alle Völker, alle Menschen erleuchtet“
Ein Licht, dass Herrlichkeit ist für alle, die das angenommen haben,
Die Volk des Lichts sein wollten
Und doch nichts anderes konnten als warten, dass es sich schenkt
Und dass es möglich ist, sein könnte
Unvollkommen vollkommen durchdrungen zu werden
Das selbst aus Dunkelheit was werden könnte,
langes Warten zum Nährboden von Neuem wird,
im Schatten der Erde Wurzeln werden,
aus der dunklen Mitte eines Menschen heraus ein neuer Mensch,
Gott noch im kleinsten Wesen, im Kind,
aus einem Dorf etwas weltbewegendes,
aus der Tiefe hinaus in die Weite,
aus der Nacht ein neuer Morgen,
geweckt vom Licht,
aus Winter Frühling,
unser aller Dunkelheit geborgen

Verwandelt
Fotosynthese, Transformation des Menschenseins
Sterben und neugeboren werden
Neuschöpfung als Licht
Selbst Licht

Das ahnt, das spürt Simeon
Das ersehnte er immer
Und weiß es jetzt
Und kann gehen
Hinein in die Dunkelheit, sterben,
Loslassen, im Angesicht des Kindes,
im Angesicht eines neuen Morgens,
im Angesicht Gottes, der Ewigen,
gelassen, lässt er los.

„Nun lässt du Herr deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden…“
Er geht
Weil er weiß
Das Licht, dass immer schon da war
dass er bisher nicht wahrnehmen konnte
Jetzt ist es da
Wird erfahrbar
Prägt unsere Wirklichkeit
Wird geschenkte Wirklichkeit in uns allen

Und das feiern wir hier
Im Licht
In unserer Ode
In unserer Ode an das Lücht
Denn es gilt ja
„Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden..“
Die dieses Licht aufnehmen, sich beschenken lassen, darauf vertrauen, glauben
Die sich darauf verlassen, dass ihnen das Licht und das Leben in seiner Fülle zu eigen ist, geschenkt wurde
Die dieses Licht selber sehen lernen
Als Lebens-Grund in allem
Als Herz in dem Herzen
Als Mitte alles Zwischen

„Allen die ihn aufnahmen…“
Gab er Macht
Kind zu werden
Kind Gottes
Licht zu sein
Licht für die Welt
Frei zu sein, weil neugeboren,
neu geborgen,
Dieses Licht, das doch alles durchwohnt, durchatmet, durchdringt

So sind wir
Das können wir entdecken
Alle im Wandel
Alle Licht
Alle Leben
Alle Wort
Alle Christus
Weil dieses Licht uns durchleuchten und verwandeln darf
Endlich
Zum Licht macht
Zur Lichtträgerin
Zum Lichtträger
Und wir hier Gemeinschaft des Lichtes sind
Ein Ort
Ein Raum

Licht
Eine Ode an das Licht
Ein Lobgesang
In deinem Licht werden wir das Licht

Ihr seid das Licht der Welt
Leuchtet also
Strahlt
Entzündet euch
Strahlt sie an, die anderen Lichter
Die Welt
Die Menschen
Strahlt und leuchtet
in
Die Beziehungslosigkeiten
Die Farblosigkeit
Die Nacht
Den Hass
Die Trauer
Die Lähmung
Die Sprachlosigkeit
Den Tod

Wir strahlen
Werden Licht
Fülle erfahren wir
Beziehung
Zwischen uns

Danke für das Lücht

Lange Zeit war hier Stille, aber nun ist es Zeit, neu loszulegen. Zwischen den Einträgen liegt die Pandemie, liegen intensive Jahre des Umbruchs, liegen Missbrauchsstudien katholisch und jetzt auch evangelisch, liegt der Synodale Weg und der Synodale Prozess, liegt die Kirchenmitgliedschaftsstudie (KMU 6) – und zwei Bücher.

Und natürlich habe ich auch in den sozialen Medien Gedanken veröffentlicht und mal was versucht: „Lust auf Morgen“ hier die Videoreihe bei Youtube – und seit kurzem podcaste ich amateurhaft Predigten.

„Raus in eine neue Freiheit“: im Blick auf die polemisch-populistischen Auseinandersetzungen schien es mir wichtig, pastorale Weichenstellungen in die Zukunft zu skizzieren. Es geht nicht mehr an, im Erhaltmodus das System zu optimieren – es braucht gewagte Schritte nach vorne. Erste kleine Schritte findet ihr dort

Aber danach kam eine Erkenntnis, die nicht wirklich so ganz neu ist: dreht sich nicht immer noch viel zu sehr um die Kirche? Wie bei uns Kirchlern leicht möglich, bewegen uns dabei immer noch Bilder der Vergangenheit? Und bei mir selbst vielleicht auch? Muss es nicht radikaler werden, grundlegender, ursprünglicher?

Deswegen geht die Richtung zunächst mal in die Tiefe: auf den Grund: zu meiner eigenen – ich denke: mystischen – Grunderfahrung, die möglicherweise ein anderes Paradigma freisetzt. Im letzten Sommer habe ich fast wie im begeisterten Rausch im griechischen Urlaub darüber nachgedacht, was eigentlich meine Grunderfahrung genau ist – und wie sie dann auch Praxis und Theologie beeinflussen könnte.

Herausgekommen ist ein anderes Buch. Ein Einhornbuch der Erfahrungen und Impulse, die mich mehr als alles bewegen.

Und jetzt geht es hier weiter. Aus all dem wächst eine Erfahrung des Evangeliums im heute, eine Erfahrung des Reiches Gottes, das auch „Kirche“ neu verstehen lässt: eine Logik von Glauben, Gemeinschaft und Theologie, die sich vom Übermorgen her zuspielt, schon in Anfängen erkennbar und ganz anders.

Darüber möchte ich gemeinsam mit allen nachdenken.

Und neu loslegen.

Nein, mir geht es nicht um den Erhalt einer bestimmten Kirchenkonstellation. Nein, hier geht es auch nicht um Pastoralpläne der Weiterentwicklung. Nein, es geht auch nicht darum, die Kirche fit zu reformieren – denn das wäre letztlich Systemerhalt, und ehrlich gesagt: wie wir auch hier in dieser Tagung sehen: es hilft nicht, ein wenig oder drastischer das System zu reformieren – es braucht vielleicht mehr.

Genau das ist die These. Deswegen spreche ich von Ekklesiogenesis, und nicht zuerst von Kirchenreform. Deswegen spreche ich von Ursprungsmomenten, und nicht vom Weiterwursteln oder – noch typischer: vom Rechthaben, von Dummen, von Konservativen, Beharrern und Progressiven, von Flügelkämpfen und den gegenabhängigen Kontroversen in den einschlägigen Blasen. Mich überzeugt das nicht, auch wenn es natürlich wichtig bleibt, aufzudecken, was Missbrauch ist, was Systemfailure ist, was Unglaubwürdigkeit meint – dann bestätigt all dies aber dummerweise, was ich zutiefst denke: wir sind am Ende eines Gefüges, und werden es nicht weiterführen können, egal was wir reformieren. Uns nützen keine neuen Postkutschen, wenn wir doch über Emails und Zoom miteinander kommunizieren. Wir sind nicht bei einem Update, auch nicht bei einem Upgrade, sondern einem Wechsel des Betriebssystems. Die Abstürze und Abgründe des bisherigen machen deutlich, dass es so nicht weitergeht. Das bringt Probleme – und auch dazu später.

Und deswegen möchte ich gerne mit euch in den Wald, in den Kirchenwald. Vielleicht ist mir das Bild zum ersten Mal mit den Kolleginnen und Kollegen auf einer Exposuretour in England gekommen, als wir in der anglikanischen Kirche unterwegs waren, um die „fresh expressions of church“ zu erleben – inmitten einer Kirchenlandschaft, die ja gerade auch in England sehr traditionskräftig geprägt ist. Die anglikanischen Geschwister sprachen eben nicht nur von „fresh expressions“ – von ungewöhnlichen Kirchengründungen und -entwicklungen, die sich durch leidenschaftliche Christinnen und Christen in allen Teilen und an vielen unterschiedlichen Orten gebildet haben.

Die anglikanischen Bischöfe sprachen auch von einer „mixed economy of church“ – und meinen einen dynamischen Werde- und Vergehensprozess ohne jede Bewertung, der jedoch den Blick losreisst von einer Vergangenheitsfixierung auf die Gegenwart und den Mut hat, Kirche vom Ursprung neu und vielfältig zu denken. Das war nicht immer so. Auch dazu gleich mehr.

Aber: mixed economy – „Mischwirtschaft“ – das klingt für uns etwas überökonomisch, und deswegen komme ich, kamen wir zu einem anderen Bild, das aber – so finde ich – genau jene Dynamik in den Blick rückt, die ich hier unterstreichen möchte und die ich auch theologisch eingründen möchte.  Das Bild vom Wald ist auch nur ein Bild – aber es macht deutlich, dass es hier um ein dynamisches Geschehen geht, um Sterben und Leben, um ein lebendiges und dynamisches Ökosystem, um Klimawandel und um Evolution, um Ursprünge und Absterben – und darum, dass die Zeit der Monokulturen und forstwirtschaftlichen Pastoralmacht zu Ende ist.

So ist vielleicht „kirchlicher Mischwald“ auch  noch zu zahm – geht es nicht eher um einen gewollten und programmatischen Verzicht auf Kontrolle, der allerdings nicht dasselbe ist wie laissez faire, sondern eine klare theologische Option für das Evangelium: es könnte auch sein, dass ein kleiner Urwald entsteht, der aber sehr wohl beförstert und geleitet wird, geht es doch immer darum, dem Evangelium Wirksamkeit zu ermöglichen – jenseits der Bilder, die wir haben und diesseits der Fantasie des Reiches Gottes.

Im Einzelnen möchte ich jetzt genauer hinschauen

Das Ende des Harzes

In diesem Coronasommer bin ich ein paarmal in den Harz gefahren, jenes hübsche kleine Mittelgebirge, mit viel Wald. Mit viel Wald? Wer über Torfhaus den Harzhighway der Biker befährt, sieht erschreckendes. Riesenflächen an kahlen Fichten oder Tannen zwischen kleinen Flecken von hoffentlich noch gesunden Bäumen. Es wirkt wie eine Wüste. Die Ursachen sind klar. In den letzten Jahrzehnten setzte man auf eine Monokultur, und dann kam der Klimawandel mitsamt dem Borkenkäfer.

Ich wandere durch die gestalteten Wege – und oft wird es eine schön abenteuerliche Kletterei über gefallene Bäume, gesägte oder umgestürzte. Es ist ein deutliches Bild. Hier ist eine Transformation im Gang – aber: es ist keineswegs alles tot, im Gegenteil. Es wächst neues, aber eben sehr anders.

Spannend ist die Reaktion der Harzförster:innen: nein, es wird nicht dasselbe wieder gepflanzt. Gespannt achten sie darauf, was neu wächst – und behutsam werden neue Baumsorten mitgepflanzt, ohne eine Garantie dafür, dass das sich dann durchsetzt. Und klar ist auch: es wird situativer, unvorhersehbarer, und vielleicht nicht mehr so wirtschaftlich nutzbar. Vielleicht aber doch – wer weiß schon, was nachhaltiger Urwald bewirken möchte, gerade auch in Zeiten des Klimawandels. Offen für diese Zukunft, nicht planlos, aber doch Raum gebend – ein spannender Weg, heute einen Wald wachsen zu lassen…

Hinzu kommt eine andere Idee: was zu Ende geht und zusammenbricht, das ist nicht nutzlos. Man kann es weiterverwenden, mindestens zum Teil dient es als Bauholz für anderes – und der Rest wird Humus: Nährboden für das neue Leben.

Das Bild spricht sofort, wenn wir es auf die Kirche in ihrer derzeitig endzeitlichen Verfasstheit volkskirchlicher Gefüge projizieren. Es ist natürlich mit Deutungen verbunden und setzt ein bestimmtes theologisches Grundverständnis voraus, das nicht allen zugänglich ist und sein muss.

Es kommt nämlich ganz drauf an. Die derzeitige populistische und apokalyptische Grundstimmung hat einen anderen Fokus: mit Recht wird der Niedergang der volkskirchlichen und klerikal überformten Kirchengestalt an ihren ungeheuerlichen Missbrauchserfahrungen und den damit freigelegten und sogar zuweilen theologisch legitimierten Systembugs – der verfälschten und kompromittierten DNA der Kirchengestalt – sichtbar. Und darüber gilt es zu streiten. Und hier gibt es auch kein Weiter so.

Aber es gibt ja ohnehin kein Weiter-so, denn dieser Streit darf nicht übersehen, dass die Streitenden selbst in der Gefahr sind, weiterhin selbst eingebunden zu sein und zu wollen in ein bestimmtes Bild und Gefüge. Es wäre nicht das erste Mal, dass hier ein so dichtes Netz von Gegenabhängigkeiten zu Diskussionen führt, die nicht über das hinausführen, was wir schon vor 50 Jahren diskutiert haben. Karl Rahners „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ aus dem Jahr 1972 lässt grüßen.

Ich kann das gerne verdeutlichen: die Freiburger Studie, die den Kirchen einen Niedergang der Kirchenmitgliedschaft und der Steuereinnahmen in ungeahnten Maß attestiert und prognostiziert, geht doch implizit in ihrem Hintergrundbild tatsächlich davon aus, dass die Zielvorstellung der Kirche weiterhin die Fortsetzung einer Vergangenheit ist, die doch selbst seit inzwischen 50 Jahren am Vergehen ist. Die Selbstverständlichkeit des Glaubens, schon damals kontrafaktisch, die Milieuprägung und ihre Übertragung parallele Gemeindewelten, ihr hoher Organisationsgrad. Der Ausbruch in kategoriale Freiheitsräume der Sendung, die hohe Strukturierung, die klerikale Abhängigkeit und ihre in Berufsgruppen ausgeformte Gegenabhängigkeit – und das geheime Wissen darum, dass eine Epoche zu Ende geht – das alles ist nichts neues. Und weist nicht in die Zukunft.

Denn dummerweise machen Katholiken und Protestanten seit Jahrzehnten sowieso, was sie wollen – und reagieren nicht mehr auf Angebote, die sie annehmen sollten. Glauben wird seit Jahrzehnten persönliche Weggeschichte, die sich nicht mehr institutionell kontrollieren lässt, und dennoch funktionieren die Reflexe einer oben-unten Dialektik immer noch. Und die Fragen an diese Kirchengestalt sind seit der Würzburger Synode keine anderen. Freiheit sieht anders aus.

Aber heißt das auch das Ende der Kirche? Selbst wenn alle dringenden Systemhausaufgaben gemacht wären – das System bleibt dysfunktional in einer Welt, die sich komplett verändert hat. Klimawandel gesellschaftlich hat Folgen, die deutlich sichtbar werden. Wer würde im Ernst daran glauben, dass bessere Predigten, Frauen als Priesterinnen (ich habe kein Problem damit), partizipativere Rätestrukturen (die aus der Zeit der katholischen Aktion stammen) wirklich verändernd wirken würden. Denn wir sind längst woanders.

Im postmodernen Mischwald der Kirche

Wieder eine Wanderung. Diesmal in Wülfinghausen. Im kleinen Deister. Ein anderer Wald. Ein Mischwald. Ein wunderbarer Wald – aber obwohl deutlich zu hören ist, wie gesägt und beforstet wird – der Wald wirkt etwas wild. Ein kleiner Urwald. Ich merke es, als ich mit einer Freundin und ihrem Hund auf Wegen gehe. Denn auf einmal endet der Weg, der doch eben noch bei Googlemaps so schön beschrieben war. Und ja, dann ist noch ein anderer Weg in der Nähe. Aber… nicht erkennbar in der Wirklichkeit. Überall Dornen (ich trage den Hund) und dann schlagen wir uns durch, bis es dann tatsächlich wieder Wege zu erkennen gibt. Ein verwunschener Wald, wunderbar… und die Wege bilden sich dort zuweilen erst beim Gehen.

„Mixed economy“, das ist ein echter urwaldiger Mischwald. Und hier wird deutlich, dass das gar nicht so fern ist von unserer Kirchenerfahrung, und hier zugleich deutlich wird, dass diese Wirklichkeit keinesfalls eine harmonisierende Verklärung und optimistische Projektion eigener Kirchenwünsche ist.

Denn zunächst geht es auch ums Sterben. Wie alles, was lebt, sterben muss und sterben darf. Das gilt eben auch für die Kirche. Natürlich ist Sterben nicht schön, natürlich löst Sterben Widerstand, Trauer und Wut aus, Verweigerung und Resignation – wir kennen das aus den Trauerphasen. Und wir wissen auch aus diesen Erfahrungen, dass dann – nach dem Einstimmen, erst neues wachsen kann.

Was tiefenpsychologisch erforscht ist, liegt eigentlich in der DNA des christlichen Lebens: die österliche Dimension des Geheimnisses von Tod und Auferstehung durchprägt christliches Leben – und damit auch die Kirche, auch in ihrer organisationellen, ihrer insitutionellen und ihrer sozialen Gestalt und Form. Das sollte nicht verwundern. Theologisch gesprochen trägt die Kirche diese Dynamik in sich, wie die ganze Schöpfung: „wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, dann bleibt es allein…“ (Joh 12).

Dieser dramatische Wachstumsprozess gehört zum Leben der Kirche, gehört zu ihrem Werden.

Aber umgekehrt: so wie im Harz, aber auch im Deisterurwald – so wächst auch ständig Neues, Unerwartetes. Was im anglikanischen Kontext „fresh expressions“ heißt und sehr diverse und vielfältige Formen kirchlichen Lebens meint, das braucht – aus der ekklesialen Försterperspektive – einen neuen Blick: nein, wir wollen nicht die fetten Eichen und Fichten alleine sehen, sondern auch die Achtsamkeit erwerben, die kleinen und neuen Pflänzchen zu betrachten, die in ihnen gewachsene Frucht des Evangelium wahrzunehmen, und wie Urwaldbotaniker oder Harzbesucher uns freuen lernen an unbekannten und bekannten neuen Formen, neuen Blüten, neuen ekklesialen Obstwiesen.

Es ist ja spannend, genau hier eben nicht neue Baumschulen alter Sorte aufzustellen, sondern entstehen zu lassen, was das Evangelium in unserer Zeit bewirkt. „fresh expressions“ heißen diese Formen in England ja auch deswegen, weil sie verknüpft mit der ursprünglichen Sendung des Evangeliums. Das muss ja, so sagt es die Ordinationsformel in anglikanischen Ordinationsliturgien in jeder Zeit und in jeder Gesellschaft „afresh“ verkündet werden.

Mit anderen Worten: dort, wo Menschen vom Evangelium ergriffen mit ihren Gaben und Charismen das Evangelium mit den Menschen ihrer Zeit teilen, wachsen natürlich neue Formen, treibt es neue Blüten, neue Formen der Gemeinschaft – und Ja: auch neue Strukturen und sogar Paradigmen, die angemessen sind. Erinnert sei hier daran, dass diese adaptive Verkündigung der Stil Jesu, die Herausforderung des II. Vatikanums (GS 44) und die Tiefe des Aggiornamentos ist, von dem wir sprechen.

Und ja: wer durch solche Wege im Wald sucht, der ist nicht vorher mit der Planierraupe durch den Wald gefahren, damit endlich etwas Neues das Alte ersetzt – sondern der hat entdeckt, dass Vielfalt und Mischung, Altes und Neues erst zusammen jenen kirchlichen Mischwald hervorbringen, der die Fülle des Evangeliums für alle Menschen bezeugen kann.

Aber auch: das ist nicht wirklich neu. Das geschieht nur je neu.

Ekklesiogenesis

Wenn man von Ekklesiogenesis, vom Werden der Kirche spricht, muss man dabei eins wissen: es geht zuerst überhaupt nicht um die Kirche, sondern es geht um die Welt und das Evangelium in der Welt. Und es geht nicht um einen pastoral geplanten Vorgang, sondern um einen ursprünglichen Prozess: überall dort, wo das Evangelium heute und hier – und in anderen Zeiten und Kulturräumen – bezeugt, gelebt, verkündet wird, wird diese Mischwald/Urwald Kirche ans Licht kommen, als Verdichtung dieses Evangeliums – mal mehr nachhaltig, prägend, mal fluide und vorübergehend.

Ich habe diese Rede vom Werden der Kirche in den vergangenen Jahren verknüpfen dürfen mit den Ansätzen einer „pastoral d’engendrement“, wie sie im französischen Sprachraum diskutiert werden. Eine „zeugende Pastoral“, eine Pastoral des „Anfangen dürfens“ (Hadwig Müllers Übersetzungsversuch) reflektiert zum einen die neue Situation des Christentums in Europa. Christoph Theobald (Christentum als Stil) beschreibt die Nähe unserer Zeit zu den ursprünglichen Aufbrüchen der Apostelgeschichte. Mit der Leidenschaft des Evangeliums, die um Gastfreundschaft in einer multireligiösen und konstitutiv pluralistischen Weltgesellschaft wirbt, können zarte neue Formen und Spiritualitäten neben den alten durchbeteten Kathedralen wachsen, kann von innen und aus der Kraft der Schrift, die wir miteinander teilen, Weggemeinschaft und Glaubensgemeinschaft werden. Kann – muss nicht, denn es bleibt im Raum der Freiheit und Gnade letztlich immer ein Geschenk, ein sakramentales Ereignis, wenn Kirche wird.

Aber eine doppelte Frage stellt sich hier: Zum einen wäre interessant, uns selbst zu fragen, ob wir auch heute an die überraschende Fruchtbarkeit des Evangeliums glauben, an seine kirchenbildende Kraft, die das Ziel des Reiches Gottes in je provisorischen Gestalten verdichtet. Und zum anderen wäre zu fragen, ob wir mit einen „liebend-neugierigen Blick“ in uns tragen, der er ermöglicht, neues Leben zu entdecken und wachsende Kirche zu schützen und für ihr Wachstum Raum zu schaffen.

Beides sind Glaubensfragen: die erste Frage verlangt uns ab, unsere eigenen Bilder – gelungene oder mißlungene oder schreckliche Erfahrungen der persönlichen oder kollektiv unbewußten kirchlichen Vergangenheit – nicht normativ für die Zukunft gelten zu lassen, sondern mit der Kategorie des demütigen Staunens Kirche als Überraschung in ihrem Sterben und ihrem Neuwerden wahrzunehmen. Das bedeutet einen doppelten Mut: auf der einen Seite gilt es, die wertvollen Traditionen neu zu lesen auf dem Hintergrund der neuen Erfahrungen, die wir reichlich machen können: was bedeutet etwa eigentlich die postkonfessionelle Prägung unserer Traditionen? Wie wird heute Sakramentalität und Segen zu verstehen sein? Welche Formen nimmt Ordination und Struktur an? Was bedeutet es, wenn Charismen und Gaben im Zentrum fluider Kirchlichkeit stehen? Und: sind wir bereit, die klassischen Parameter nicht gegen die neuen Parameter, die sich hoffentlich im Nachdenken der Erfahrungen zeigen werden, auszuspielen. Darf es eine nicht-polarisierende Denkform geben? Glauben wir also, summa summarum, dass Gottes Evangelium auch heute wirkt, sich ein Volk sammelt – aber eben staunenswert anders und vielleicht erschreckend unbekannt?

Auch die andere Frage hat es in sich: Sehen wir, was dieses Evangelium heute anrichtet? Sehen wir, was sich schon zeigt? „Schaut nicht auf das, was früher war. Auf das, was gewesen ist, sollt ihr nicht mehr achten. Seht, ich schaffe Neues – schon sprießt es, merkt ihr es nicht? (Jes 43, 18f).

Mir fällt häufig eine enorme Blindheit auf, die weder mit dem Sterben noch mit dem Werden zurechtkommt. Zum einen gibt es keine Einlinigkeit mehr: es ist nicht so, dass die Vergangenheit flächendeckend stirbt – es ist nicht so, dass es ein homogenes Zukunftsszenario gibt. Ganz im Gegenteil. Wer durch die kirchlichen Mischwälder geht, tut gut daran, seinen Blick für Großes und Kleines, Schräges und Gewohntes zu schärfen. Sie tut gut daran, jenseits der klassischen Fragen von Zugehörigkeit, Taufquote und Kirchgänger, von hohem oder niedrigen Engagement wahrzunehmen, mit wieviel Leidenschaft Menschen heute das Evangelium aufnehmen und aus ihm Zukunft gestalten.

Darf man den Papst zitieren?

„Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Gegenwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weitschweifige Weise, tun“

Und

„Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige, der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bieten, welche häufig im Gegensatz zum Evangelium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert. Das erfordert, neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft zu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen anziehender und bedeutungsvoller sind.

Das macht eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen, mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen.“

Ein Weg durch die katholische Landesgartenschau in Hildesheim…

Ich schlage Ihnen einen dritten Wanderweg vor. Durch die Innenstadt von Hildesheim. Bleiben wir bei den Katholiken – wir könnten dasselbe auch bei den evangelischen Geschwistern entdecken. Wer die Innenstadtpfarrei besucht, wie ich es getan habe, stößt zum einen auf eine relativ kleine Gruppe klassisch geprägter Gemeindeglieder. Ja, wenn die Normform kirchlichen Lebens tatsächlich die vielfach upgegradete Gemeindegestalt der 70er Jahre wäre, dann steht es nicht so rosig. Kaum noch Gruppen, wenige Kirchgänger (die eher in den Dom gehen), und vor allem: keiner kommt nach. Traurigkeit und Ratlosigkeit beherrscht das Feld. Und die Augen sind gehalten. Denn wir könnten ja anderes und neues entdecken: im Garten der Pfarrei konstituiert sich – beargwöhnt („Was bringt das denn?“) eine Gemeinschaft von Spirituell Suchenden, der es gelungen ist, auch viele Schülerinnen und Schüler, aber auch Gärtnerinnen und Gärtner zusammenzubringen. 100 Meter weiter, in der Kirche des Priesterseminars, wächst mehr und mehr eine Gemeinschaft von jungen Familien, die mit einfachen, aber tiefgehenden Gottesdiensten Gemeinschaft schafft, die es in Hildesheim sonst so nicht gibt. Und was ist mit dem „Lüchtenhof“, in dem bald junge Leute eine Lebensschule des Evangeliums gestalten und Gründerinnen und Gründer einen Heimathub finden. Halt, das ist nicht alles: was ist mit der Vinzenzpforte, dem Ort für Wohnsitzlose in Hildesheim, der von Christinnen und Christen gestaltet wird, dem katholischen Altenheim, den katholischen Schulen, dem katholischen Kindergarten und dem katholischen Krankenhaus… der katholischen Kreuzbar für Jugendliche und der spirituellen Oase Heilig Kreuz. Was ist mit der polnischen Gemeinde, deren Leben brummt – und was ist mit dem Frauenkirchort, an dem die Initiative Maria 2.0 andockt.

Kein Mangel, nirgends. Eher die Frage, wie all dies begleitet wird – und wie ein Weg des Wachstums des Evangeliums gebahnt werden kann. All dies zusammen – und nur all dies zusammen – ist die reiche Kirche in der Innenstadt, mit ihrer Vielfalt an Sendungen, an Furchtbarkeit, an Zeugnis. Was fehlt, ist der Blick, der all dies sieht und sein Wachstum begleitet. Dort, wo wir heraustreten aus dem klassischen Gefangenschaften unseres kirchlichen Binnenzirkels, da könnten wir die Fruchtbarkeit des Evangeliums und die ekklesiogenetischen Prozesse einer Kirche im Werden betrachten, uns freuen und daran lernen, wie unser Glauben heute geht.

Und wenn wir schon hinschauen… Dieselbe Landesgartenschau und der städtische ekklesiale Waldspaziergang funktioniert noch krasser im Blick auf die Vergangenheit. Dann würde sich nämlich herausstellen, dass es vor allem der Fülle charismatischer Gaben gestern und heute und heute zu verdanken ist, was wir heute sehen. Es war Angela Merici, die am Ursprung der Schullandschaft steht. Es war Louise de Maurillac, die am Ursprung des Krankenhauses, des Altenheims und der Vinzenzpforte steht. Es waren die Fraterherren, die die Erneuerung der devotio moderna nach Hildesheim brachten. Es waren Kapuziner, Franziskaner, Benediktiner und Karthäuser, die mit der Geistkraft und Leidenschaft ihrer Charismen die Erneuerung der Kirche in den verschiedenen Zeiträumen wirklich werden ließen – und mit ihnen neue Formen und Gestalten des Glaubens parallel und vielfältig wachsen ließen.

Wir sehen: es braucht eine pneumatologische Schärfung der Ekklesiologie (ich denke an Michael Böhnke), um die Wirkkraft des Evangeliums deutlich in den Blick zu rücken.

Und die Pastoral? Und das Amt? Und der Priester?

Wir sind hier, um über die Identität des Priesters nachzudenken. Jedem wird aufgefallen sein, dass ich hier weder von Priestern noch von Hauptamtlichen geredet habe, die für die Erneuerung der Kirche zuständig seien. Sind sie auch nicht. Mich hat immer das Diktum von Georg Bätzing, seligen Angedenkens Regens, in meiner ersten Sitzung als Regens bewegt. Damals, im Jahr 2006, da wollte ich gerne, dass unsere Ausbildung den veränderten kirchlichen Paradigmen Rechnung trägt. Sein Donnerschlag war: „Weißt du, Christian, Priester haben noch nie die Kirche erneuert!“. Ich war nicht ganz sprachlos: „Ich möchte ja nur, dass sie sie nicht verhindern“.

In diesem kurzen Wortwechsel steckt für mich auch der Paradigmenwechsel. Denn eines ist ja klar. Wenn soviel stirbt und aufersteht, dann wird auch die gewachsene Identität des Priesters und aller im pastoralen Dienst zutiefst in Frage gestellt. Und das ist angekommen. Wir merken es an jeder Ecke.

Klar ist: wenn wir nicht einen neuen Zugang zum Ursprung finden, bleibt es bei Priestern, die wir als Macher brauchen. Dann bleibt es beim Oben-Unten klerikaler Provenienz, auch in der modernen Variante von Professionalität und Laientum, dann bleibt es bei den Ehrenamtlichen.

Klar ist auch: auch all dies steht auf dem Prüfstand, wenn wir durch den kirchlichen Mischwald gehen. Welche Försteraufgabe brauchen die, die im Dienst am Wachsen der selbstwachsenden Saat des Evangeliums stehen – und wie kann dies von unserer reichen Tradition neu gelesen werden. Das ist die eigentliche sportliche Aufgabe.

Das stellt auch mich in Frage: Ich bin ja nicht nur Priester, sondern auch Leiter einer Hauptabteilung Seelsorge. Was habe ich zu tun? Ich – wir – spüren immer mehr, dass es nicht um Pastoralpläne geht, sondern um Ermöglichungsräume, und gestaltete Regeln für ein Miteinander, um Unterstützung und Begleitung und Schutz des Wachsenden in gewohnten und neuen Kontexten. Und es geht darum, die liebenden Augen auf das prachtvolle Volk Gottes zu richten, das in der Tat den Weg in die Zukunft finden wird.

Christian Hennecke/12.02.21