Nein, mir geht es nicht um den Erhalt einer bestimmten Kirchenkonstellation. Nein, hier geht es auch nicht um Pastoralpläne der Weiterentwicklung. Nein, es geht auch nicht darum, die Kirche fit zu reformieren – denn das wäre letztlich Systemerhalt, und ehrlich gesagt: wie wir auch hier in dieser Tagung sehen: es hilft nicht, ein wenig oder drastischer das System zu reformieren – es braucht vielleicht mehr.

Genau das ist die These. Deswegen spreche ich von Ekklesiogenesis, und nicht zuerst von Kirchenreform. Deswegen spreche ich von Ursprungsmomenten, und nicht vom Weiterwursteln oder – noch typischer: vom Rechthaben, von Dummen, von Konservativen, Beharrern und Progressiven, von Flügelkämpfen und den gegenabhängigen Kontroversen in den einschlägigen Blasen. Mich überzeugt das nicht, auch wenn es natürlich wichtig bleibt, aufzudecken, was Missbrauch ist, was Systemfailure ist, was Unglaubwürdigkeit meint – dann bestätigt all dies aber dummerweise, was ich zutiefst denke: wir sind am Ende eines Gefüges, und werden es nicht weiterführen können, egal was wir reformieren. Uns nützen keine neuen Postkutschen, wenn wir doch über Emails und Zoom miteinander kommunizieren. Wir sind nicht bei einem Update, auch nicht bei einem Upgrade, sondern einem Wechsel des Betriebssystems. Die Abstürze und Abgründe des bisherigen machen deutlich, dass es so nicht weitergeht. Das bringt Probleme – und auch dazu später.

Und deswegen möchte ich gerne mit euch in den Wald, in den Kirchenwald. Vielleicht ist mir das Bild zum ersten Mal mit den Kolleginnen und Kollegen auf einer Exposuretour in England gekommen, als wir in der anglikanischen Kirche unterwegs waren, um die „fresh expressions of church“ zu erleben – inmitten einer Kirchenlandschaft, die ja gerade auch in England sehr traditionskräftig geprägt ist. Die anglikanischen Geschwister sprachen eben nicht nur von „fresh expressions“ – von ungewöhnlichen Kirchengründungen und -entwicklungen, die sich durch leidenschaftliche Christinnen und Christen in allen Teilen und an vielen unterschiedlichen Orten gebildet haben.

Die anglikanischen Bischöfe sprachen auch von einer „mixed economy of church“ – und meinen einen dynamischen Werde- und Vergehensprozess ohne jede Bewertung, der jedoch den Blick losreisst von einer Vergangenheitsfixierung auf die Gegenwart und den Mut hat, Kirche vom Ursprung neu und vielfältig zu denken. Das war nicht immer so. Auch dazu gleich mehr.

Aber: mixed economy – „Mischwirtschaft“ – das klingt für uns etwas überökonomisch, und deswegen komme ich, kamen wir zu einem anderen Bild, das aber – so finde ich – genau jene Dynamik in den Blick rückt, die ich hier unterstreichen möchte und die ich auch theologisch eingründen möchte.  Das Bild vom Wald ist auch nur ein Bild – aber es macht deutlich, dass es hier um ein dynamisches Geschehen geht, um Sterben und Leben, um ein lebendiges und dynamisches Ökosystem, um Klimawandel und um Evolution, um Ursprünge und Absterben – und darum, dass die Zeit der Monokulturen und forstwirtschaftlichen Pastoralmacht zu Ende ist.

So ist vielleicht „kirchlicher Mischwald“ auch  noch zu zahm – geht es nicht eher um einen gewollten und programmatischen Verzicht auf Kontrolle, der allerdings nicht dasselbe ist wie laissez faire, sondern eine klare theologische Option für das Evangelium: es könnte auch sein, dass ein kleiner Urwald entsteht, der aber sehr wohl beförstert und geleitet wird, geht es doch immer darum, dem Evangelium Wirksamkeit zu ermöglichen – jenseits der Bilder, die wir haben und diesseits der Fantasie des Reiches Gottes.

Im Einzelnen möchte ich jetzt genauer hinschauen

Das Ende des Harzes

In diesem Coronasommer bin ich ein paarmal in den Harz gefahren, jenes hübsche kleine Mittelgebirge, mit viel Wald. Mit viel Wald? Wer über Torfhaus den Harzhighway der Biker befährt, sieht erschreckendes. Riesenflächen an kahlen Fichten oder Tannen zwischen kleinen Flecken von hoffentlich noch gesunden Bäumen. Es wirkt wie eine Wüste. Die Ursachen sind klar. In den letzten Jahrzehnten setzte man auf eine Monokultur, und dann kam der Klimawandel mitsamt dem Borkenkäfer.

Ich wandere durch die gestalteten Wege – und oft wird es eine schön abenteuerliche Kletterei über gefallene Bäume, gesägte oder umgestürzte. Es ist ein deutliches Bild. Hier ist eine Transformation im Gang – aber: es ist keineswegs alles tot, im Gegenteil. Es wächst neues, aber eben sehr anders.

Spannend ist die Reaktion der Harzförster:innen: nein, es wird nicht dasselbe wieder gepflanzt. Gespannt achten sie darauf, was neu wächst – und behutsam werden neue Baumsorten mitgepflanzt, ohne eine Garantie dafür, dass das sich dann durchsetzt. Und klar ist auch: es wird situativer, unvorhersehbarer, und vielleicht nicht mehr so wirtschaftlich nutzbar. Vielleicht aber doch – wer weiß schon, was nachhaltiger Urwald bewirken möchte, gerade auch in Zeiten des Klimawandels. Offen für diese Zukunft, nicht planlos, aber doch Raum gebend – ein spannender Weg, heute einen Wald wachsen zu lassen…

Hinzu kommt eine andere Idee: was zu Ende geht und zusammenbricht, das ist nicht nutzlos. Man kann es weiterverwenden, mindestens zum Teil dient es als Bauholz für anderes – und der Rest wird Humus: Nährboden für das neue Leben.

Das Bild spricht sofort, wenn wir es auf die Kirche in ihrer derzeitig endzeitlichen Verfasstheit volkskirchlicher Gefüge projizieren. Es ist natürlich mit Deutungen verbunden und setzt ein bestimmtes theologisches Grundverständnis voraus, das nicht allen zugänglich ist und sein muss.

Es kommt nämlich ganz drauf an. Die derzeitige populistische und apokalyptische Grundstimmung hat einen anderen Fokus: mit Recht wird der Niedergang der volkskirchlichen und klerikal überformten Kirchengestalt an ihren ungeheuerlichen Missbrauchserfahrungen und den damit freigelegten und sogar zuweilen theologisch legitimierten Systembugs – der verfälschten und kompromittierten DNA der Kirchengestalt – sichtbar. Und darüber gilt es zu streiten. Und hier gibt es auch kein Weiter so.

Aber es gibt ja ohnehin kein Weiter-so, denn dieser Streit darf nicht übersehen, dass die Streitenden selbst in der Gefahr sind, weiterhin selbst eingebunden zu sein und zu wollen in ein bestimmtes Bild und Gefüge. Es wäre nicht das erste Mal, dass hier ein so dichtes Netz von Gegenabhängigkeiten zu Diskussionen führt, die nicht über das hinausführen, was wir schon vor 50 Jahren diskutiert haben. Karl Rahners „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ aus dem Jahr 1972 lässt grüßen.

Ich kann das gerne verdeutlichen: die Freiburger Studie, die den Kirchen einen Niedergang der Kirchenmitgliedschaft und der Steuereinnahmen in ungeahnten Maß attestiert und prognostiziert, geht doch implizit in ihrem Hintergrundbild tatsächlich davon aus, dass die Zielvorstellung der Kirche weiterhin die Fortsetzung einer Vergangenheit ist, die doch selbst seit inzwischen 50 Jahren am Vergehen ist. Die Selbstverständlichkeit des Glaubens, schon damals kontrafaktisch, die Milieuprägung und ihre Übertragung parallele Gemeindewelten, ihr hoher Organisationsgrad. Der Ausbruch in kategoriale Freiheitsräume der Sendung, die hohe Strukturierung, die klerikale Abhängigkeit und ihre in Berufsgruppen ausgeformte Gegenabhängigkeit – und das geheime Wissen darum, dass eine Epoche zu Ende geht – das alles ist nichts neues. Und weist nicht in die Zukunft.

Denn dummerweise machen Katholiken und Protestanten seit Jahrzehnten sowieso, was sie wollen – und reagieren nicht mehr auf Angebote, die sie annehmen sollten. Glauben wird seit Jahrzehnten persönliche Weggeschichte, die sich nicht mehr institutionell kontrollieren lässt, und dennoch funktionieren die Reflexe einer oben-unten Dialektik immer noch. Und die Fragen an diese Kirchengestalt sind seit der Würzburger Synode keine anderen. Freiheit sieht anders aus.

Aber heißt das auch das Ende der Kirche? Selbst wenn alle dringenden Systemhausaufgaben gemacht wären – das System bleibt dysfunktional in einer Welt, die sich komplett verändert hat. Klimawandel gesellschaftlich hat Folgen, die deutlich sichtbar werden. Wer würde im Ernst daran glauben, dass bessere Predigten, Frauen als Priesterinnen (ich habe kein Problem damit), partizipativere Rätestrukturen (die aus der Zeit der katholischen Aktion stammen) wirklich verändernd wirken würden. Denn wir sind längst woanders.

Im postmodernen Mischwald der Kirche

Wieder eine Wanderung. Diesmal in Wülfinghausen. Im kleinen Deister. Ein anderer Wald. Ein Mischwald. Ein wunderbarer Wald – aber obwohl deutlich zu hören ist, wie gesägt und beforstet wird – der Wald wirkt etwas wild. Ein kleiner Urwald. Ich merke es, als ich mit einer Freundin und ihrem Hund auf Wegen gehe. Denn auf einmal endet der Weg, der doch eben noch bei Googlemaps so schön beschrieben war. Und ja, dann ist noch ein anderer Weg in der Nähe. Aber… nicht erkennbar in der Wirklichkeit. Überall Dornen (ich trage den Hund) und dann schlagen wir uns durch, bis es dann tatsächlich wieder Wege zu erkennen gibt. Ein verwunschener Wald, wunderbar… und die Wege bilden sich dort zuweilen erst beim Gehen.

„Mixed economy“, das ist ein echter urwaldiger Mischwald. Und hier wird deutlich, dass das gar nicht so fern ist von unserer Kirchenerfahrung, und hier zugleich deutlich wird, dass diese Wirklichkeit keinesfalls eine harmonisierende Verklärung und optimistische Projektion eigener Kirchenwünsche ist.

Denn zunächst geht es auch ums Sterben. Wie alles, was lebt, sterben muss und sterben darf. Das gilt eben auch für die Kirche. Natürlich ist Sterben nicht schön, natürlich löst Sterben Widerstand, Trauer und Wut aus, Verweigerung und Resignation – wir kennen das aus den Trauerphasen. Und wir wissen auch aus diesen Erfahrungen, dass dann – nach dem Einstimmen, erst neues wachsen kann.

Was tiefenpsychologisch erforscht ist, liegt eigentlich in der DNA des christlichen Lebens: die österliche Dimension des Geheimnisses von Tod und Auferstehung durchprägt christliches Leben – und damit auch die Kirche, auch in ihrer organisationellen, ihrer insitutionellen und ihrer sozialen Gestalt und Form. Das sollte nicht verwundern. Theologisch gesprochen trägt die Kirche diese Dynamik in sich, wie die ganze Schöpfung: „wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, dann bleibt es allein…“ (Joh 12).

Dieser dramatische Wachstumsprozess gehört zum Leben der Kirche, gehört zu ihrem Werden.

Aber umgekehrt: so wie im Harz, aber auch im Deisterurwald – so wächst auch ständig Neues, Unerwartetes. Was im anglikanischen Kontext „fresh expressions“ heißt und sehr diverse und vielfältige Formen kirchlichen Lebens meint, das braucht – aus der ekklesialen Försterperspektive – einen neuen Blick: nein, wir wollen nicht die fetten Eichen und Fichten alleine sehen, sondern auch die Achtsamkeit erwerben, die kleinen und neuen Pflänzchen zu betrachten, die in ihnen gewachsene Frucht des Evangelium wahrzunehmen, und wie Urwaldbotaniker oder Harzbesucher uns freuen lernen an unbekannten und bekannten neuen Formen, neuen Blüten, neuen ekklesialen Obstwiesen.

Es ist ja spannend, genau hier eben nicht neue Baumschulen alter Sorte aufzustellen, sondern entstehen zu lassen, was das Evangelium in unserer Zeit bewirkt. „fresh expressions“ heißen diese Formen in England ja auch deswegen, weil sie verknüpft mit der ursprünglichen Sendung des Evangeliums. Das muss ja, so sagt es die Ordinationsformel in anglikanischen Ordinationsliturgien in jeder Zeit und in jeder Gesellschaft „afresh“ verkündet werden.

Mit anderen Worten: dort, wo Menschen vom Evangelium ergriffen mit ihren Gaben und Charismen das Evangelium mit den Menschen ihrer Zeit teilen, wachsen natürlich neue Formen, treibt es neue Blüten, neue Formen der Gemeinschaft – und Ja: auch neue Strukturen und sogar Paradigmen, die angemessen sind. Erinnert sei hier daran, dass diese adaptive Verkündigung der Stil Jesu, die Herausforderung des II. Vatikanums (GS 44) und die Tiefe des Aggiornamentos ist, von dem wir sprechen.

Und ja: wer durch solche Wege im Wald sucht, der ist nicht vorher mit der Planierraupe durch den Wald gefahren, damit endlich etwas Neues das Alte ersetzt – sondern der hat entdeckt, dass Vielfalt und Mischung, Altes und Neues erst zusammen jenen kirchlichen Mischwald hervorbringen, der die Fülle des Evangeliums für alle Menschen bezeugen kann.

Aber auch: das ist nicht wirklich neu. Das geschieht nur je neu.

Ekklesiogenesis

Wenn man von Ekklesiogenesis, vom Werden der Kirche spricht, muss man dabei eins wissen: es geht zuerst überhaupt nicht um die Kirche, sondern es geht um die Welt und das Evangelium in der Welt. Und es geht nicht um einen pastoral geplanten Vorgang, sondern um einen ursprünglichen Prozess: überall dort, wo das Evangelium heute und hier – und in anderen Zeiten und Kulturräumen – bezeugt, gelebt, verkündet wird, wird diese Mischwald/Urwald Kirche ans Licht kommen, als Verdichtung dieses Evangeliums – mal mehr nachhaltig, prägend, mal fluide und vorübergehend.

Ich habe diese Rede vom Werden der Kirche in den vergangenen Jahren verknüpfen dürfen mit den Ansätzen einer „pastoral d’engendrement“, wie sie im französischen Sprachraum diskutiert werden. Eine „zeugende Pastoral“, eine Pastoral des „Anfangen dürfens“ (Hadwig Müllers Übersetzungsversuch) reflektiert zum einen die neue Situation des Christentums in Europa. Christoph Theobald (Christentum als Stil) beschreibt die Nähe unserer Zeit zu den ursprünglichen Aufbrüchen der Apostelgeschichte. Mit der Leidenschaft des Evangeliums, die um Gastfreundschaft in einer multireligiösen und konstitutiv pluralistischen Weltgesellschaft wirbt, können zarte neue Formen und Spiritualitäten neben den alten durchbeteten Kathedralen wachsen, kann von innen und aus der Kraft der Schrift, die wir miteinander teilen, Weggemeinschaft und Glaubensgemeinschaft werden. Kann – muss nicht, denn es bleibt im Raum der Freiheit und Gnade letztlich immer ein Geschenk, ein sakramentales Ereignis, wenn Kirche wird.

Aber eine doppelte Frage stellt sich hier: Zum einen wäre interessant, uns selbst zu fragen, ob wir auch heute an die überraschende Fruchtbarkeit des Evangeliums glauben, an seine kirchenbildende Kraft, die das Ziel des Reiches Gottes in je provisorischen Gestalten verdichtet. Und zum anderen wäre zu fragen, ob wir mit einen „liebend-neugierigen Blick“ in uns tragen, der er ermöglicht, neues Leben zu entdecken und wachsende Kirche zu schützen und für ihr Wachstum Raum zu schaffen.

Beides sind Glaubensfragen: die erste Frage verlangt uns ab, unsere eigenen Bilder – gelungene oder mißlungene oder schreckliche Erfahrungen der persönlichen oder kollektiv unbewußten kirchlichen Vergangenheit – nicht normativ für die Zukunft gelten zu lassen, sondern mit der Kategorie des demütigen Staunens Kirche als Überraschung in ihrem Sterben und ihrem Neuwerden wahrzunehmen. Das bedeutet einen doppelten Mut: auf der einen Seite gilt es, die wertvollen Traditionen neu zu lesen auf dem Hintergrund der neuen Erfahrungen, die wir reichlich machen können: was bedeutet etwa eigentlich die postkonfessionelle Prägung unserer Traditionen? Wie wird heute Sakramentalität und Segen zu verstehen sein? Welche Formen nimmt Ordination und Struktur an? Was bedeutet es, wenn Charismen und Gaben im Zentrum fluider Kirchlichkeit stehen? Und: sind wir bereit, die klassischen Parameter nicht gegen die neuen Parameter, die sich hoffentlich im Nachdenken der Erfahrungen zeigen werden, auszuspielen. Darf es eine nicht-polarisierende Denkform geben? Glauben wir also, summa summarum, dass Gottes Evangelium auch heute wirkt, sich ein Volk sammelt – aber eben staunenswert anders und vielleicht erschreckend unbekannt?

Auch die andere Frage hat es in sich: Sehen wir, was dieses Evangelium heute anrichtet? Sehen wir, was sich schon zeigt? „Schaut nicht auf das, was früher war. Auf das, was gewesen ist, sollt ihr nicht mehr achten. Seht, ich schaffe Neues – schon sprießt es, merkt ihr es nicht? (Jes 43, 18f).

Mir fällt häufig eine enorme Blindheit auf, die weder mit dem Sterben noch mit dem Werden zurechtkommt. Zum einen gibt es keine Einlinigkeit mehr: es ist nicht so, dass die Vergangenheit flächendeckend stirbt – es ist nicht so, dass es ein homogenes Zukunftsszenario gibt. Ganz im Gegenteil. Wer durch die kirchlichen Mischwälder geht, tut gut daran, seinen Blick für Großes und Kleines, Schräges und Gewohntes zu schärfen. Sie tut gut daran, jenseits der klassischen Fragen von Zugehörigkeit, Taufquote und Kirchgänger, von hohem oder niedrigen Engagement wahrzunehmen, mit wieviel Leidenschaft Menschen heute das Evangelium aufnehmen und aus ihm Zukunft gestalten.

Darf man den Papst zitieren?

„Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Gegenwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weitschweifige Weise, tun“

Und

„Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige, der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bieten, welche häufig im Gegensatz zum Evangelium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert. Das erfordert, neuartige Räume für Gebet und Gemeinschaft zu erfinden, die für die Stadtbevölkerungen anziehender und bedeutungsvoller sind.

Das macht eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen, mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen.“

Ein Weg durch die katholische Landesgartenschau in Hildesheim…

Ich schlage Ihnen einen dritten Wanderweg vor. Durch die Innenstadt von Hildesheim. Bleiben wir bei den Katholiken – wir könnten dasselbe auch bei den evangelischen Geschwistern entdecken. Wer die Innenstadtpfarrei besucht, wie ich es getan habe, stößt zum einen auf eine relativ kleine Gruppe klassisch geprägter Gemeindeglieder. Ja, wenn die Normform kirchlichen Lebens tatsächlich die vielfach upgegradete Gemeindegestalt der 70er Jahre wäre, dann steht es nicht so rosig. Kaum noch Gruppen, wenige Kirchgänger (die eher in den Dom gehen), und vor allem: keiner kommt nach. Traurigkeit und Ratlosigkeit beherrscht das Feld. Und die Augen sind gehalten. Denn wir könnten ja anderes und neues entdecken: im Garten der Pfarrei konstituiert sich – beargwöhnt („Was bringt das denn?“) eine Gemeinschaft von Spirituell Suchenden, der es gelungen ist, auch viele Schülerinnen und Schüler, aber auch Gärtnerinnen und Gärtner zusammenzubringen. 100 Meter weiter, in der Kirche des Priesterseminars, wächst mehr und mehr eine Gemeinschaft von jungen Familien, die mit einfachen, aber tiefgehenden Gottesdiensten Gemeinschaft schafft, die es in Hildesheim sonst so nicht gibt. Und was ist mit dem „Lüchtenhof“, in dem bald junge Leute eine Lebensschule des Evangeliums gestalten und Gründerinnen und Gründer einen Heimathub finden. Halt, das ist nicht alles: was ist mit der Vinzenzpforte, dem Ort für Wohnsitzlose in Hildesheim, der von Christinnen und Christen gestaltet wird, dem katholischen Altenheim, den katholischen Schulen, dem katholischen Kindergarten und dem katholischen Krankenhaus… der katholischen Kreuzbar für Jugendliche und der spirituellen Oase Heilig Kreuz. Was ist mit der polnischen Gemeinde, deren Leben brummt – und was ist mit dem Frauenkirchort, an dem die Initiative Maria 2.0 andockt.

Kein Mangel, nirgends. Eher die Frage, wie all dies begleitet wird – und wie ein Weg des Wachstums des Evangeliums gebahnt werden kann. All dies zusammen – und nur all dies zusammen – ist die reiche Kirche in der Innenstadt, mit ihrer Vielfalt an Sendungen, an Furchtbarkeit, an Zeugnis. Was fehlt, ist der Blick, der all dies sieht und sein Wachstum begleitet. Dort, wo wir heraustreten aus dem klassischen Gefangenschaften unseres kirchlichen Binnenzirkels, da könnten wir die Fruchtbarkeit des Evangeliums und die ekklesiogenetischen Prozesse einer Kirche im Werden betrachten, uns freuen und daran lernen, wie unser Glauben heute geht.

Und wenn wir schon hinschauen… Dieselbe Landesgartenschau und der städtische ekklesiale Waldspaziergang funktioniert noch krasser im Blick auf die Vergangenheit. Dann würde sich nämlich herausstellen, dass es vor allem der Fülle charismatischer Gaben gestern und heute und heute zu verdanken ist, was wir heute sehen. Es war Angela Merici, die am Ursprung der Schullandschaft steht. Es war Louise de Maurillac, die am Ursprung des Krankenhauses, des Altenheims und der Vinzenzpforte steht. Es waren die Fraterherren, die die Erneuerung der devotio moderna nach Hildesheim brachten. Es waren Kapuziner, Franziskaner, Benediktiner und Karthäuser, die mit der Geistkraft und Leidenschaft ihrer Charismen die Erneuerung der Kirche in den verschiedenen Zeiträumen wirklich werden ließen – und mit ihnen neue Formen und Gestalten des Glaubens parallel und vielfältig wachsen ließen.

Wir sehen: es braucht eine pneumatologische Schärfung der Ekklesiologie (ich denke an Michael Böhnke), um die Wirkkraft des Evangeliums deutlich in den Blick zu rücken.

Und die Pastoral? Und das Amt? Und der Priester?

Wir sind hier, um über die Identität des Priesters nachzudenken. Jedem wird aufgefallen sein, dass ich hier weder von Priestern noch von Hauptamtlichen geredet habe, die für die Erneuerung der Kirche zuständig seien. Sind sie auch nicht. Mich hat immer das Diktum von Georg Bätzing, seligen Angedenkens Regens, in meiner ersten Sitzung als Regens bewegt. Damals, im Jahr 2006, da wollte ich gerne, dass unsere Ausbildung den veränderten kirchlichen Paradigmen Rechnung trägt. Sein Donnerschlag war: „Weißt du, Christian, Priester haben noch nie die Kirche erneuert!“. Ich war nicht ganz sprachlos: „Ich möchte ja nur, dass sie sie nicht verhindern“.

In diesem kurzen Wortwechsel steckt für mich auch der Paradigmenwechsel. Denn eines ist ja klar. Wenn soviel stirbt und aufersteht, dann wird auch die gewachsene Identität des Priesters und aller im pastoralen Dienst zutiefst in Frage gestellt. Und das ist angekommen. Wir merken es an jeder Ecke.

Klar ist: wenn wir nicht einen neuen Zugang zum Ursprung finden, bleibt es bei Priestern, die wir als Macher brauchen. Dann bleibt es beim Oben-Unten klerikaler Provenienz, auch in der modernen Variante von Professionalität und Laientum, dann bleibt es bei den Ehrenamtlichen.

Klar ist auch: auch all dies steht auf dem Prüfstand, wenn wir durch den kirchlichen Mischwald gehen. Welche Försteraufgabe brauchen die, die im Dienst am Wachsen der selbstwachsenden Saat des Evangeliums stehen – und wie kann dies von unserer reichen Tradition neu gelesen werden. Das ist die eigentliche sportliche Aufgabe.

Das stellt auch mich in Frage: Ich bin ja nicht nur Priester, sondern auch Leiter einer Hauptabteilung Seelsorge. Was habe ich zu tun? Ich – wir – spüren immer mehr, dass es nicht um Pastoralpläne geht, sondern um Ermöglichungsräume, und gestaltete Regeln für ein Miteinander, um Unterstützung und Begleitung und Schutz des Wachsenden in gewohnten und neuen Kontexten. Und es geht darum, die liebenden Augen auf das prachtvolle Volk Gottes zu richten, das in der Tat den Weg in die Zukunft finden wird.

Christian Hennecke/12.02.21

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Nein, es stört mich nicht, wenn mich ein evangelischer Kollege fast jedes Mal kommentiert, wenn ich ihm auf Tagungen begegnet: „Das ist ja evangelisch – da muss ich jetzt mal die katholische Tradition vertreten“. Was so scherzhaft daherkommt, hat ja einen ernsten Hintergrund. Es liegt nicht daran, dass mein Denken und Fühlen nicht katholisch wäre und tief in unserer katholischen Kirche und Tradition verwurzelt wäre. Ganz im Gegenteil: ich würde schon für mich in Anspruch nehmen, dass ich meine katholische Theologie gut durchdacht habe – aber vielleicht geht es ja um eine andere Dimension des Ganzen.

Das wird mir immer deutlich, wenn wir – wie zuletzt – unterschiedliche Beurteilungen in Sachen wechselseitiger Zulassung zur Kommunion haben. Zweifellos bündeln sich hier Herausforderungen, die aber, so mein Eindruck, gar nicht in den tiefen Gründen unserer Theologie liegen, sondern in der Wahrnehmungslogik und in der Grundarchitektur des Denkens.

Ich möchte es versuchen zu erklären. Alles beginnt für mich mit einer Erfahrung. In Anschluss an den Kongress Kirche2 haben wir mit dem ökumenischen Team einen Klausurtag im evangelischen Kloster Wülfinghausen gemacht. Und natürlich haben wir auch Liturgie gefeiert. Nora Steen, die den Kongress so wundervoll moderiert hatte, stand dem evangelischen Abendmahl vor. Und ich war beeindruckt von der Tiefe, Einfachheit und Freude dieser Liturgie. „Das ist Abendmahl, das ist eucharistische Feier“, dachte ich. „Wir Katholiken können nicht ernsthaft denken, dass das nicht so ist“. Es war eine wunderbare Feier, die uns gemeinsam tiefer verbunden hat, in Seiner Geistkraft.

Von dieser tiefen existenziellen Erfahrung aus begann ich mich zu fragen, wieso wir immer wieder sagen, dass wir uns in vielen Fragen noch nicht einig sind. Es stimmt sicher, dass die evangelischen Brüder und Schwestern ein anderes Ordinationsverständnis haben, einen anderen Blick auf die Kirche werfen und auch Sakramentalität in andere Kategorien fassen – aber das tun wir ja auch. Jede Konfession, jede Kirche hat ihren eigenen Denkweg, ihre eigenen theologischen Muster und Architekturen. Es ist eben anders, ob ich Theologie mit scholastischen oder existenziellen Denklogiken betreibe und welches der philosophische Abgrund meines Denkens ist. Natürlich kann ich anderen vorhalten, dass sie nicht so wie ich denken – und das ist zunächst nur dann problematisch, wenn ich die Denkform verknüpfe mit dem Geheimnis, dass wir doch alle nur stotternd zu Ausdruck bringen: ja, es geht um das Geheimnis der Gegenwart Gottes und wie es uns erreicht in Brot und Wein und uns verwandelt (Eucharistie); es geht darum, dass niemand es machen kann, denn es ist uns geschenkt (Sakramentalität); und es geht darum, dass niemand die Macht hat, das zu bewirken, außer Gott selbst in seiner Geistkraft (Ordination). Ja, wir haben unterschiedliche Zugänge, aber wir leben alle aus derselben Erfahrung – eine Erfahrung, die uns eint und verbindet in der einen Wirklichkeit der Liebe (Kirche).

Was wir brauchen, ist die Demut und das Staunen vor dem Geheimnis, das uns prägt. Und was wir brauchen ist die Demut und Neugier, zu verstehen, wie der Bruder und die Schwester unser Lebensgeheimnis durchdenken – in anderer und ungewohnter Weise.

Und nun kommt es darauf an, dass der eine – wie Paulus im Philipperbrief schreibt – den anderen höher einschätzt als sich selbst.

Das ist ein anderes Denkmuster. Es geht nicht um richtig und wahr, falsch und defizient, sondern um das ehrliche voneinaner und miteinander lernen. Man kann diese Weise des ökumenischen sentire cum ecclesia ähnlich formulieren wie Klaus Hemmerle: Lass mich dich Lernen, Dein Denken und Spüren, Deine Tradition und Deine Denkwege, damit wir gemeinsam entdecken können, welcher Reichtum uns geschenkt ist und was uns eint. Es geht darum, die Weite des Denkens zu lieben.

Notwendige Schritte auf dem Weg zu einer Spiritualität der Zukunft.

Der Christ der Zukunft – ein Mystiker. So lautet ein prophetisches Wort. Der katholische Theologe Karl Rahner, der diesen Satz äußerte, hatte noch eine andere Perspektive für die Zukunft. Er sprach von einer pfingstlichen gemeinsamen Spiritualität, einer Mystik in Gemeinschaft. Auch das war prophetisch. Und vielleicht ein wenig rätselhaft und vielleicht sogar unheimlich. Mystik? In Gemeinschaft? Aber wenn Mystik nichts anderes ist als ein tiefes Eintreten in die Wirklichkeit der Welt, in ihr Geheimnis, dann verliert sie ihre Esoterik. Es geht um dann um wesentliche Tiefenerfahrungen. Und diese Erfahrungen erspüren auch viele, die vielleicht auf den ersten Blick gar nicht „christlich“ zu sein scheinen. Uns erwartet eine Entdeckungsreise in die Tiefe der Wirklichkeit – und Hinweise, wie wir sie leben könnten.

Ich möchte heute nachdenken über eine Dimension geistlicher Erfahrung, die gerne das „Zwischen“ nenne. Mir scheint nämlich, dass die Wirklichkeit, in der wir leben, genau erfordert: dass wir das „Zwischen“ neu bedenken. Es ist das Zeichen unserer Zeit, in Hoffnung und Verheißung, in Scheitern und Gelingen – und zugleich ist es ein urevangelische Erfahrung: der Kern der frohen Botschaft kann hier neu erschlossen werden.

Und indem wir diesen Kern im heute neu entdeckenkönnen, werden wir auch neu entdecken, was eigentlich mit Kirche gemeint ist – und noch weiter: wie wir das Reich Gottes als „existenzielles Territorium der Gottesgegenwart“ entdecken können.

Doch wer von Mystik redet, der darf auch im christlichen Kontext mit Vorbehalten rechnen. Auf der einen Seite gerät er in die spirituelle Ecke – und das ist zwar hipp, aber eben nur eine Randdisziplin echter Theologie. Und natürlich riskiert die Rede von der Mystik hier eher von Dingen zu erzählen, die nicht ganz durchschaulich sind.

Noch riskanter ist es, wenn Mystik eher in den Kontext des Esoterischen gerät: denn dann wird diese Rede mysteriös verschleiernd, betrifft vielleicht einen zu intimen Bereich, wirkt abgehoben und elitär, für religiöse Hochleistungseliten und spirituell Hochbegabte. Und immer mit dem Risiko, spirituelle Nebenwelten zu konstruieren.

Deswegen gilt es, von vornherein Position zu beziehen. Es ist der katholische Jahrhunderttheologe Karl Rahner, der formuliert hat: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat…“ – einer, der Christus erfahren hat. Zunächst und vor allem erscheint das nun alles andere als spektakulär. Ist es nicht geradezu selbstverständlich?

Ich meine nicht. Eine gute Freundin hat mir neulich davon erzählt, dass sie während ihres Theologiestudiums eigentlich über den Glauben nachgedacht, tief die theologische Tradition reflektiert hat – aber die eigentliche persönliche Christuserfahrung war kein Thema, und wurde auch nicht thematisiert. Ich halte es für möglich, dass die wissenschaftliche Theologie unausgesprochen voraussetzt, was doch heute nicht mehr vorauszusetzen ist: dass jedes Nachdenken über den Glauben untrennbar verknüpft ist mit der Erfahrung des Glaubens. Ist das so?

Die Erfahrbarkeit des Christusgeheimnisses

Wenn wir auf Christus schauen, dann eben nicht aus der Perspektive, dass es um ein vergangenes Ereignis, ein Blick auf eine geschichtliche Persönlichkeit und ihre Ideen, die erforscht und vertieft und verglichen werden können, sondern es geht uns Christen eigentlich immer um Gegenwärtigkeit, um die Gegenwart des Auferstandenen, der mein Leben berührt hat, meinen persönlichen Lebensweg prägen konnte und prägt. Damit wird aber auch klar: ich kann mit Christsein nicht beibringen, ich kann auch nicht jemanden zum Christen erziehen und ihm die Tradition weitergeben – all dies ist nur denkbar, wenn ich mich in dieser Begegnung auf einmal finde: da ist jemand, der – schon lange unbemerkt – mir aufgeht, sich mir schenkt und ich dann wie einen Ruf spüre, der so unwiderstehlich ist, dass ich leicht nachfolgen mag.

Ich denke dabei an Samuel, der nichtsahnend den hartnäckig rufenden Gott begegnet und zum Propheten wird: Samuel lässt sich einführen von seinem altersschwachen Lehrer in die Logik des Rufens und Antwortens, aber: der Ruf ist persönlich und die Antwort muss es unvertretbar auch sein.

So ist es bei Jesus auch. Ein junger Mann mit einem Geheimnis, das wohl alle um ihn herum spüren, und er auch selbst. Man denke an seine Erfahrung als Zwölfjähriger, wo er in Jerusalem wie auf Identitätssuche im Tempel landete – und seine Unruhe, die ihn zu Johannes dem Täufer treibt. Seine Unruhe ist aber noch nicht die Erfahrung Gottes selbst, die ihn verwandelt.

So ist es aber auch bei den Aposteln, ja eigentlich bei allen Heiligen. Es geht exakt um jenen existenziellen Moment, der eine ungeheure Resonanz im eigenen Ich auslöst und mein Leben wendet: in eine Beziehung, in die Nachfolge, in die Sendung.

Eine brisante Theologie

Solche Erfahrung führen ganz notwendig ins Denken. Wer in einer solchen Begegnung sich wiederfindet, der muss nach-denken, was ihm oder ihr widerfahren ist. Denn auf einmal werde ich mitten in meiner Alltagswelt mit einer Tiefendimension der Wirklichkeit gebracht, die ich erahnte, aber nicht erreichen konnte – werde ich in eine Beziehung gebracht, die ich vielleicht ersehnte, aber nie schaffen konnte.

Das ist nicht wenig brisant. Ich erinnere mich an mein eigenes Theologiestudium und an einen Kurs, den ich bei einem Meister spiritueller Theologie belegen konnte. Pater Deblaere war ein Belgier, und er war Experte für mittelalterliche Mystik. Es war ein faszinierender Kurs, den ich besuchen durfte. Er erzählte uns vom Drama des Auseinanderdriftens von Theologie und Spiritualität, dass sich im frühen Mittelalter bis heute wirksam abspielte. Was passierte damals? Auf einmal gab es theologisch geprägte Denksysteme, die von der Erfahrung des Glaubens selbst absahen. Und umgekehrt wurde Spiritualität und Mystik zu einem Thema subjektiver Innerlichkeit. Diese „Scheidung“, dieses Auseinandergehen beider Dimensionen des Christseins, des Denkens und des Fühlens, geht nur zum Schaden beider, so Deblaere: denn auf der einen Seite wurde Theologie zum Gedankenspiel, und Mystik eigentlich nur noch Sache des frommen Individuums.

Spannend. Und am Ende sollten wir Studierende eine kurze Arbeit schreiben. Das habe ich auch getan und mir ein Traktat des mittelalterlichen Mystikers Richard von Sankt Victor vorgenommen: „Über die vier Grade der Liebe“. Ich habe es eingereicht und zwei Wochen später saß ich vor dem Professor. „Ich gebe ihnen die maximale Punktzahl“, so begann er. „Es ist eine exzellente Arbeit, aber sie haben nichts verstanden. Es ist alles falsch“. Deutliche Worte. Ich war verblüfft. „Wissen Sie, Sie sind verdorben durch ihr Theologiestudium. Sie legen Kategorien und Muster an die Erfahrung von Richard – und können deswegen seine Erfahrung nicht mehr richtig wahrnehmen“. „Was müßte ich tun?“ Er lächelte: „Sie müssten einige Kurse mit mir machen“.

Das war ein leuchtend rotes Signal für mich. Eine gute Warnung. Sie macht die Brisanz deutlich: Auf der einen Seiten gilt es, die Erfahrung wahrzunehmen und ernstzunehmen, so wie sie ist. Aber sie muss ja bedacht werden. Und jetzt stellt sich die Frage, ob mein Denken demütig genug ist, die Kategorien dieser Erfahrung aus ihr selbst zu gewinnen – denn erst dann kann die Erfahrung selbst ihre eigene theologische Tiefe gewinnen, und wird nicht eingeebnet in meine Denksysteme. Sie bringt sich selbst durch mich ins Wort – und so wird das Ungeahnte, überraschend abgrundtiefe in mir zum Wort, zur Rede von Gott. Vielleicht ist es eine Rede zu Gott, ein schwacher Antwortversuch – aber eben keine selbstsichere Antwort. Eine „knieende Theologie“, die sich der Ungeheuerlichkeit der Begegnung bewußt ist.

Während also die Mystik jenes Eintreten in einen Wirklichkeitsraum ist, den ich dann erst Schritt für Schritt erschließen darf und der sich mir eröffnet, muss mein Denken, meine Theologie ebenso Schritt für Schritt mitgehen und Leben und Denken neu konfigurieren.

Umkehren

„Weil ihr Gottes reiche Barmherzigkeit erfahren habt, fordere ich euch auf, liebe Brüder und Schwestern, euch mit eurem ganzen Leben Gott zur Verfügung zu stellen. Seid ein lebendiges Opfer, das Gott dargebracht wird und ihm gefällt. Ihm auf diese Weise zu dienen ist der wahre Gottesdienst und die angemessene Antwort auf seine Liebe. Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an, sondern lasst euch von Gott verändern, damit euer ganzes Denken neu ausgerichtet wird. Nur dann könnt ihr beurteilen, was Gottes Wille ist, was gut und vollkommen ist und was ihm gefällt.“ (Röm 12, 1-2 – Hoffnung für alle)

Es ist Paulus, der in seinem Römerbrief genau diese Erfahrung beschreibt. Es geht um eine grundlegende Erfahrung, die das Leben verändert. Die Barmherzigkeit, die heilende Liebe Gottes, führt zu einer Umkehr des Lebens. Geprägt durch eine ungeahnte Erfahrung der Liebe Gottes, verändert sich die Bewegungsrichtung des Lebens. Es wird zur Hingabe. Und – das ist das spannende an dieser Bibelstelle, die mich seit meinen ersten Studienjahren umtreibt – ist ja die Ansage eines neuen Denkens, das gewissermaßen von Gottes Gegenwart geprägt wird.

Theologie wird hier neu geboren. Und so ist es bis heute. Es sind solche tiefgreifenden Berührungen und Begegnungen, die das theologische Nachdenken erneuern. Solche tiefgehenden mystischen Erfahrungen, die es auch heute gibt, sie führen den notwendig Nachdenkenden in eine Neugeburt des eigenen Denkens über Gott – und führen zugleich in eine ungeheure Konsonanz mit den Frauen und Männern, die durch die Jahrhunderte in ebensolchen Dynamiken mystischer Erfahrung steckten und ihnen nachdachten.

Und vielleicht muss man sagen: große Theologie entspringt großer Mystik, entspringt immer einer tiefen Erfahrung der Begegnung mit dem Christusgeheimnis.

Vielleicht ist das ein langes Vorwort – aber es war notwendig. Denn es will den Raum bereiten für die Frage, die uns jetzt eigentlich beschäftigt. Eine Theologie und Spiritualität der Zukunft wird in diesem Raum der Begegnung und des Nachdenkens geboren. Diesen Raum möchte ich jetzt ausleuchten-

Die Mystik des Zwischen

Die Erfahrung mit dem Christusgeheimnis ist nun eben nicht nur, oder nur zum Teil, eine höchst individuelle, persönliche und persönlichkeitsverändernde. Denn wenn ich Gott als tiefstes Geheimnis dieser Welt mit meinem Leben entdecke, verändert das ja nicht nur mein Leben, sondern auch die Welt – oder besser: meinen Blick auf die wirkliche Wirklichkeit dieser Welt. Es lässt mich die Welt neu sehen. Ich sehe mehr von der Wirklichkeit, ich sehe Gottes Gegenwart und Wirklichkeit in den Menschen, in der Welt, in den Beziehungen. Und so sind wir, zugleich und gleich ursprünglich mit der personalen Dimension dieser mystischen Grunderfahrung, auch schon im „Zwischen“ gelandet.

Das möchte ich biblisch in einigen Skizzen erschließen. Ausgangspunkt ist die im Evangelium beschriebene Tauferfahrung Jesu. Wir sehen Jesus als einen, der wie viele der Anziehung des Täufers nachfolgt. Ja, es geht um Umkehr des Lebens, um eine fundamentale Neuausrichtung, eine Restart jenseits des Jordans. Die Zeichenhandlung ist das Untertauchen im Jordan. Aber genau in diesem religiösen Ritual geschieht etwas ganz unreligiöses. Oder sagen wir: es übersteigt jedes Denken von Religion: Der Himmel öffnet sich und eine Stimme nimmt Beziehung auf. Und Jesus erfährt eine Nähe und Liebe, die ihn neu geboren sein lässt: er ist der Sohn – und er entdeckt die Liebe des Vaters für sein Leben. Kein Zweifel, das ist keine religiöse Suche, sondern es ist ein Aufbrechen der Wirklichkeit. Dafür steht dieses wunderschöne Bild vom sich öffnenden Himmel. Denn Religion ist die Suche nach dem Weg zum Himmel, Mystik eröffnet einen neuen Wirklichkeitsraum hier auf dieser Erde.

Und genau das passiert in dieser Erfahrung. Sehr wohl spürt Jesus, dass diese Nähe Gottes ihn neu in die Wirklichkeit stellt. An ihm wird sichtbar, was schon der Römerbrief formuliert wird: sein Leben wird Hingabe.

Aber hier geschieht und wird noch mehr: Jesus zieht sich in die Wüste zurück. Er braucht Zeit, um zu verstehen, was ihm geschehen ist und was die Welt in ein neues Wirklichkeitslicht stellt. Das wird deutlich und sichtbar, als er dann die Frohe Botschaft verkündet. Die Summe dieser Botschaft findet sich bei Markus gleich am Anfang seines „Evangeliums“: „Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe! Kehrt um und glaubt an das Evangelium“, so seine Botschaft (Mk 1,15).

Will sagen: wir sind alle eingetreten in eine andere Wirklichkeit. Denn der geöffnete Himmel gilt nicht nur Jesus, sondern allen. Alle sind Söhne und Töchter, Geliebte des einen Vaters. Seine Wirklichkeit konstiuiert unsere Wirklichkeit – ist die wirkliche Wirklichkeit. Es geht nicht mehr darum, Gott zu suchen – er hat sich uns geoffenbart, mitten in dieser unserer Wirklichkeit, in unserer Welt. Und das Reich Gottes ist kein fernes Morgen, sondern ein nahes Heute. Das Evangelium ist, noch bevor es eine neue Lehre ist, eine Ansage über die neu entdeckte Wirklichkeit, die zwischen uns „ist“. Denn sie betrifft Mensch und Welt, und sie schafft eine neue Wirklichkeit zwischen uns.

Der Weg Gottes mit seinem Volk

Von daher fällt ein helles Licht auf die Logik des Weges Gottes mit seinem Volk. Es wird noch einmal der rote Faden sichtbar, der sich durch das ganze Erste Testament zieht. Nur in Kürze kann dies angedeutet werden. Gott erwählt sich ein Volk, er konstituiert beim Exodus eine Gemeinschaft, die er dann mit den 10 Geboten beschenkt. Zehn Gebote, die nichts anderes sein wollen als Lebensworte für das Miteinander der Menschen. So selbstverständlich sie sind, so wenig sind sie oft gelebt. Immer geht es ihm um Gerechtigkeit. Und schon von Anfang an ist es seine Freude, unter den Menschen zu sein. Seine Gegenwart formt sein Volk zu einer Gemeinschaft, die ihrerseits jenen Gott bezeugt, der Leben will.

Und das genau ist die Vision, auf die hin die Geschichte zielt, so wie sie die Propheten hervorsagen: denn wenn das Ziel der Wege Gottes das Fest auf dem Zionsberg ist, bei dem Gott selbst der Gastgeber ist, wie es etwa bei Jesaja gesagt wird, dann wird deutlich, dass es hier um eine Gottesgegenwart geht, die sich auf das Zwischen der Menschen auswirkt.

Genau das haben die jüdischen Theologen entdeckt, und es in der Schöpfungsgeschichte ausführlich beschrieben. Denn das ist doch die Grundwirklichkeit der Wirklichkeit, die vielfach verstellt und verletzt uns prägt: Dass Gott eben nicht nur kreativ die Welt geschaffen hat, sondern die Beziehung zwischen ihm und allem, was ist, in sie eingeprägt hat. Deswegen ist der Mensch als Mann und Frau erschaffen, gibt es eine fundamentale Gleichwürdigkeit, ist Einheit das Ziel der Wege Gottes. Die Kreativität Gottes zielt auf eine reiche Welt der Beziehungen – und die Grundverletztheit des Menschen betrifft vor allem diese Beziehungswirklichkeit: das Zwischen zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mensch, Mensch und Welt.

Der Blick nach vorne

Es fällt von dieser Grundwirklichkeit auch nach vorne. Natürlich. Denn wenn unsere Ursprungswirklichkeit eine beziehungreiche Welt der Gegenwart Gottes mitten zwischen den Menschen ist – und wenn die Verletzung dieser Wirklichkeit gerade die Beziehungen betrifft, dann wird es möglich, in dieser Logik auch noch einmal genauer zu beschreiben, was dann eigentlich mit Erlösung gemeint ist. Vielleicht darf und kann man sagen: das Zwischen wird erlöst und so auch der Einzelne nie ohne Beziehung zum Anderen.

Im Neuen Testament lässt sich hier der rote Faden des Zwischen weiterführen. Der Schlüssel für die Zeichenhandlung der Fusswaschung (Joh 13), für das Neue Gebot Jesu (Joh 13,34) und für das in allen Variationen konjugierte „einander“ in den Paulusbriefen ist die Erfahrung, dass in der Begegnung mit dem lebendigen Gott, in der Begegnung mit dem Auferstandenen neue Beziehungsverhältnisse ermöglicht und wirklich werden, die als tiefe Ursehnsucht im Ursprung unseres Lebens ersehnt aber nicht erreicht werden können.

Das meint Erlösung: das Zwischen wird erlöst, Menschen können sich neu verstehen und kommunizieren (Pfingsten), entdecken sich als „ein Herz und eine Seele“. Und so können wir das Neue Testament durchschreiten und entdecken die paulinische Revolution der Gleichwürdigkeit aller jenseits sozialer und geschlechtlicher Unterschiede (Gal 3,28) – und zugleich illustriert die Geschichte schon der frühen Christen bis heute, welche revolutionäre Umkehr darin steckt, diese Wirklichkeit ernst zu nehmen, zu leben. Die Erlösung des Zwischen bleibt der normative Stachel für jede christliche Lebenspraxis.

Und schließlich schauen wir ganz nach vorne – auf Gottes Vision der absoluten Zukunft, wie sie uns präsentiert wird in der Offenbarung des Johannes. Es ist die Stadt, es ist das Miteinander der Vielen. Und wer aufmerksam diese spektakulären Visionen am Ende der Offenbarung des Johannes liest, dem wird schnell deutlich, dass hier die Mystik des Zwischen eindrücklich beschrieben wird: Es ist eine Stadt, die erleuchtet ist von der Gegenwart Gottes: Seine Wirklichkeit prägt das Miteinander – es ist die Alltäglichkeit des Miteinander, nicht eine spezifische Religiösität, die die Zukunft prägt: die Wohnung Gottes unter den Menschen. Es geht nicht um eine bestimmte Religion, um einen oder viele Tempel, sondern um eine erlöste Sozialität

Der biografische Hintergrund

Warum lese ich die Schrift so? Warum wird sie mir so zum Lebensbuch? Warum ist mir die Perspektive des Zwischen und die Mystik der Gotteserfahrung, die sich inmitten der Beziehungen zeigt, so wesentlich – und warum glaube und behaupte ich, dass hier der Schlüssel für eine Spiritualität der Zukunft liegt?

Ich gebe es gerne zu: weil es letztlich meine Ursprungserfahrung des Christseins ist, aus der ich lebe und in der ich mich entdecke und finde. Und nicht nur ich: ich würde mal behaupten, dass wir alle uns in dieser Ursprungserfahrung bewegen und sind – egal wie wir das merken.

Natürlich braucht es dafür eine wichtige Unterscheidung: es geht bei der Mystik des Zwischen nicht um eine bestimmte spirituelle Praxis, sondern um das Erfahren und Mitleben einer Erfahrung, die uns alle berühren kann.

Und davon kann ich nur von mir erzählen: natürlich habe ich klassische Formen meiner Konfession gelernt und eingeübt, und sie sind mir wichtig. Aber zugleich steckte in mir die Sehnsucht nach mehr – doch mit den erlernten und gelebten Formen berührte ich nur den Himmel. Und nur sehr flüchtig spürte ich seine Nähe.

Aber ich erinnere mich wie heute an die überwältigenden Entdeckungen des Zwischen. Überwältigend waren sie deswegen, weil ich denke, dass ich natürlich – wie jeder und jede – Verletzungen des Zwischen in mir prägend trage, die Selbstvertrauen und Vertrauen erschweren. Die Erfahrungen, die all dies durchkreuzten, sind deswegen um so tiefer. Ich erinnere mich an eine Jugendfreizeit auf dem Wohldenberg wie heute. Zufällig war ich dort bei einem Jugendtreffen dabei und erahnte dort, am Abend, inmitten vieler Jugendlicher eine Dimension, die ich so nicht kannte: Ich entdeckte das zwischen uns etwas war, das mich verband. Ich war fasziniert und konnte es nicht deuten. Nur eins wußte ich: hier werde ich so oft herkommen, wie ich kann.

Und genau in derselben Zeit geschah mir dies in Hannover, bei einem Treffen. Ich glaube, ich darf sagen, dass dies eine Offenbarung war. Denn ja: ich kannte niemanden und kam zu diesem Treffen mit der Angst des Schüchternen, allein zu bleiben. Das Gegenteil trat ein. Da war eine Atmosphäre, die alles in mir löste – mich in Beziehung und Gespräch führte. Ohne Anstrengung. Und hier, zum ersten Mal, entdeckte ich den Gott des Zwischen. Denn als ich damals nach Hause fuhr, wurde mir klar, dass ich alles geben würde, um in dieser Wirklichkeit zu bleiben. Eben: hier war mir mitten unter den Menschen Gott irgendwie begegnet, und wer ihm begegnet, will mit ihm bleiben. So ging es auch mir. Und das war für mich geradezu paradox: denn ich bin und war ein Einzelgänger, der auf einmal bereit war, Gottes Gegenwart inmitten der Beziehungen und Menschen zu leben.

Wenn ich ehrlich bin: von da an habe ich versucht zu leben, was ich erlebt habe. Aber dieses Ereignis machte mich auch zum Theologen. Und bis heute, in immer wieder neuen Anläufen, versuche ich dieses Geheimnis zu denken – und zu entdecken, was dies für die Gestaltung der Kirche der Zukunft bedeutet.

Die spirituelle Vision

Wir können so die Geschichte der Spiritualität lesen. Der heilige Franziskus gehört mit seiner Entdeckung gleichwürdiger Geschwisterlichkeit und kosmischer Beziehungswirklichkeit (Bruder Sonne, Schwester Mond) genau so in diese Perspektive, wie der heilige Ignatius, dessen mystische Umkehrerfahrung ihn sehen ließ, dass Gott Licht ist. Und dieses Leuchten erfüllt Welt und alle Beziehungen, und alles Leben.

Ich kann es wiederfinden in meinen Begegnungen mit der Gemeinschaft San Egidio. Mich hat einfach zutiefst berührt, mit welcher Einfachheit und Selbstverständlichkeit alle Armen zu Freunden werden. Und schließlich ist meine eigene Spiritualität gegründet im Charisma der Einheit, das mir Chiara Lubich erschlossen hat: von Gott her auf die Welt zu schauen und die Gegenwart des Auferstanden in und zwischen allen und allem zu entdecken, das ist nicht nur eine Vision, sondern eben die erlöste Wirklichkeit, die selbst dann, wenn sie im Dunkel der Verlassenheit und Verlorenheit ist, hier einen Weg sieht.

Von daher ist es nicht verwunderlich, dass mir das Nachdenken über die Kirche so wertvoll wurde, und ich bei Dietrich Bonhoeffer in einzigartiger Weise fündig wurde: Bonhoeffer ist ein nüchtern-leidenschaftlicher evangelischer Christ aus Berlin, als er auf seiner Romreise eine mystische Grunderfahrung macht: er entdeckt Gott im Zwischen und kann so existenziell Kirche erleben und erfahren, mitten in der ambivalenten katholischen Kirchenwirklichkeit. Mich hat mehr als erstaunt, dass sich das weitere Nachdenken Bonhoeffers immer wieder um diese Wirklichkeit dreht.

Von hier aus erwächst auch sein leidenschaftlicher Appell und seine großartige Vision für die Erneuerung der Kirche. Wenn er – in dem bekannten Taufbrief, der in „Widerstand und Ergebung“ veröffentlicht ist – das Ende einer bekannten Kirchenwirklichkeit beschreibt, dann sieht er den Aufbruch zu einer neuen Wirklichkeit nichtreligiösen Christentums vor allem im „Beten und Tun des Gerechten“, aus dem das Christsein neu geboren werden muss, aus dem eine neue Form des Kircheseins mitten unter den Menschen hervorwächst.

Dies kann hier nur skizziert werden – aber es wird deutlich, dass in der Mystik des Zwischen das Programm einer neuen Theologie und einer neuen Wirklichkeit des Kirchenverständnisses steckt, ein Paradigmenwechsel, wie er kaum radikaler gedacht werden kann.

Lehramtliche Prophetie

Karl Rahner, von dem wir am Anfang sprachen, hat nicht nur davon gesprochen, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker ist. In seinen Schriften vermutet er, dass eine Spiritualität der Zukunft deutlich mehr als in der Vergangenheit eine gemeinschaftlich gelebte Spiritualität ist.

Diese Vision findet sich auch bemerkenswert deutlich in einem wirklich prophetisch anmutenden Schreiben von Papst Johannes Paul II. Im Anschluss ans Heilige Jahr 2000 spricht er in „Novo Millenio Ineunte“ von einer „Spiritualität der Gemeinschaft“ (NMI 43), die letztlich die eigentliche Erwartung von Welt und Gesellschaft im dritten Jahrtausend sei. Er formuliert eindrücklich: „Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen. Was bedeutet das konkret? Auch hier könnte die Rede sofort praktisch werden, doch es wäre falsch, einem solchen Anstoß nachzugeben. Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern, indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muß. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet zudem die Fähigkeit, den Bruder und die Schwester im Glauben in der tiefen Einheit des mystischen Leibes zu erkennen, d.h. es geht um »einen, der zu mir gehört«, damit ich seine Freuden und seine Leiden teilen, seine Wünsche erahnen und mich seiner Bedürfnisse annehmen und ihm schließlich echte, tiefe Freundschaft anbieten kann. Spiritualität der Gemeinschaft ist auch die Fähigkeit, vor allem das Positive im anderen zu sehen, um es als Gottesgeschenk anzunehmen und zu schätzen: nicht nur ein Geschenk für den anderen, der es direkt empfangen hat, sondern auch ein »Geschenk für mich«. Spiritualität der Gemeinschaft heißt schließlich, dem Bruder »Platz machen« können, indem »einer des anderen Last trägt« (Gal 6,2) und den egoistischen Versuchungen widersteht, die uns dauernd bedrohen und Rivalität, Karrierismus, Mißtrauen und Eifersüchteleien erzeugen. Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, daß diese sich ausdrücken und wachsen kann.“

Papst Franziskus greift diese Gedanken auf. Sein programmatisches Antrittsschreiben „Evangelii Gaudium“ ist – aus der ignatianischen Grunderfahrung, die ich oben angedeutet habe – geprägt vom Gedanken einer Mystik des Zwischen. Er überschreibt dies mit einem „Ja zu den von Christus gebildeten Beziehungen (EG 87) und formuliert: „Heute, da die Netze und die Mittel menschlicher Kommunikation unglaubliche Entwicklungen erreicht haben, spüren wir die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt. Auf diese Weise werden sich die größeren Möglichkeiten der Kommunikation als größere Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität zwischen allen erweisen. Wenn wir diesen Weg verfolgen könnten, wäre das etwas sehr Gutes, sehr Heilsames, sehr Befreiendes, eine große Quelle der Hoffnung! Aus sich selbst herausgehen, um sich mit den anderen zusammenzuschließen, tut gut. Sich in sich selbst zu verschließen bedeutet, das bittere Gift der Immanenz zu kosten, und in jeder egoistischen Wahl, die wir treffen, wird die Menschlichkeit den kürzeren ziehen“.

Diese Mystik des Zwischen weitet sich in die Dimensionen eines kosmischen Miteinanders und einer Mystik der Schöpfung, die er ausführlich in „Laudato si“ beschreibt: mehr als eine Umweltenzyklika geht es um das Gute Leben – und dieses Leben lässt sich nicht abtrennen von eben jener tiefen Mystik, die Wirklichkeit umfassend in Gott neu werden lässt. „Das Universum entfaltet sich in Gott, der es ganz und gar erfüllt. So liegt also Mystik in einem Blütenblatt, in einem Weg, im morgendlichen Tau, im Gesicht des Armen.159 Das Ideal ist nicht nur, vom Äußeren zum Inneren überzugehen, um das Handeln Gottes in der Seele zu entdecken, sondern auch, dahin zu gelangen, ihm in allen Dingen zu begegnen, wie der heilige Bonaventura lehrte: „Die Kontemplation ist umso vollkommener, je mehr der Mensch die Wirkung der göttlichen Gnade in sich verspürt, oder auch je besser er versteht, Gott in den äußeren Geschöpfen zu begegnen.“ (Lsi 233).“

Die kulturelle und ökologische Revolution gründet in einer spirituellen Revolution, die in der Mystik wurzelt.

In Zeiten von Corona

All dies ist hochaktuell und wird für die Zukunft des Christentums und die spirituelle Lebenspraxis eine entscheidende Rolle spielen. Was schon Bonhoeffer 1944 als einen Transformationsprozess zu einem nichtreligiösen Christentum erahnte (vgl. Widerstand und Ergebung), das wird freigelegt im Heute: es verbietet sich, in religiöse Extra- und Nebenwelten zurückzukehren: Nein, die Wirklichkeit dieser Welt ist die Wirklichkeit der Gegenwart des auferstandenden Herrn, der jede Dunkelheit und jede Verletztheit mit seiner Liebe erlösen wollte und will und wirkte. Und dieser Gott lebt deswegen im Zwischen, näher, als wir uns selbst sind, Nähe schaffend und ermöglichend. Die Welt ist das existenzielle Gebiet Seiner Gegenwart.

So wird immer mehr deutlich, dass wir jetzt schon in einer postkonfessionellen und multireligiösen Welt leben, und der christliche Glauben sich in der Perspektive einer Mystik des Zwischen als jene Wirklichkeitserfahrung, Wirklichkeitspraxis und -denken erweisen kann, die Beziehung ins Zentrum rückt und Gottes beziehungsstiftende Nähe überall entdeckt. Noch einmal Papst Franzikus: „Wir müssen die Stadt von einer kontemplativen Sicht her, das heißt mit einem Blick des Glaubens erkennen, der jenen Gott entdeckt, der in ihren Häusern, auf ihren Straßen und auf ihren Plätzen wohnt. Die Gegenwart Gottes begleitet die aufrichtige Suche, die Einzelne und Gruppen vollziehen, um Halt und Sinn für ihr Leben zu finden. Er lebt unter den Bürgern und fördert die Solidarität, die Brüderlichkeit und das Verlangen nach dem Guten, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Gegenwart muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weitschweifige Weise tun.“ (EG 71).

Und deswegen gilt es, ohne Angst und Bange, diese Wirklichkeit zu entdecken: Das macht eine Evangelisierung nötig, welche die neuen Formen, mit Gott, mit den anderen und mit der Umgebung in Beziehung zu treten, erleuchtet und die grundlegenden Werte wachruft. Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen.“ (EG 74).

Aber was ist das für ein Weg? Es zeigt sich als ein induktiver und partizipativer Suchweg, der Gott findet, weil er sich finden lässt, und gerade in den menschlichen Sehnsüchten und Abgründen sein Zelt aufgeschlagen hat.

Schritte auf dem Weg zu einer Spiritualität der Zukunft

Was sind dann die notwendigen Schritte, das dürfen wir uns fragen. Es geht nicht darum, etwas zu erzeugen, es geht nicht ums Machen, es geht nicht um eine gewohnte oder neue Frömmigkeitspraxis, die gleichwohl auch darin Raum finden könnte. Es geht vielmehr um fundamentale Entdeckungszusammenhänge, die für die Zukunft unserer Welt und unserer Gesellschaft, für die Zukunft der einen Menschheit wesentlich und notwendend sind. Denn das tiefste Geheimnis dieser Welt, die Gegenwart Gottes, der „Himmel zwischen uns“ (Klaus Hemmerle) wird von allen gespürt und ersehnt.

Drei Elemente dieser Spiritualität möchte ich kurz skizzieren

  • Neu sehen lernen
    Es geht darum, neu zu sehen. Schon in der Begegnung Jesu mit Jüngern wie Nathanael oder mit Nikodemus ging es ihm darum, dass das „Heute“ so gotterfüllt ist, dass es ein Leben völlig umprägt. Diese Welt ist gottvoll, das Reich Gottes ist da. Eine der wichtigsten spirituellen Aufgaben ist es deswegen, eine neue Praxis des Sehens einzuüben. Nicht umsonst sind etwa „Strassenexerzitien“ so resonant für die Menschen von heute.

  • Begegnung wagen
    Jesus begegnet Menschen wie der Samaritanerin, der Syrophönizierin oder dem römischen Hauptmann. Und all diesen Begegnungen offenbart sich Neues, auch für ihn selbst. Der Schlüssel für die offenbarenden Begegnung ist das Zwischen. Jesus selbst spricht davon, wenn er die Praxis einer zukünftigen Spiritualität der Samaritanerin zum Abschluss ihrer Begegnung erschließt (Joh 4,23f): „Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahren Anbeter den Vater im Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen im Geist und Wahrheit anbeten“. Es geht um eine Existenzform, nicht um einen Tempel – es geht um die Entdeckung des Geistes in uns und zwischen uns, damit die unverhüllte Wirklichkeit („Wahrheit) zum Grund des Handelns machen. So eröffnet sich ein Raum der Begegnung, der die Fülle des Lebens vorerfahren lässt.

  • Glauben lernen
    Das heißt dann in dieser Perspektive, sich einzulassen auf diese Wahrheit und Wirklichkeit der liebenden Gegenwart Gottes und ihr vertrauen. Darauf macht vor allem Christoph Theobald aufmerksam in seinen verschiedenen  Veröffentlichungen (zuletzt Christentum als Stil, Freiburg 2018). Dieses tiefe sich-anvertrauen ist sicher der Weg, fähig zu werden für eine neue Zukunft des Christentums.

Christoph Theobald ist es, der in seiner packenden Zeitanalyse die Situation des Christentums als neue Anfangssituation in einer neuen Zeit beschreibt und dabei die Apostelgeschichte zur Referenzerfahrung dieses neuen Anfangs macht. Wir Christen sind gesandt in diese gottvolle Welt, um ihn zu entdecken in den vielen Menschlichkeiten und Unmenschlichkeiten von heute, von ihm zu erzählen und gastfreundlich Räume des Entdeckens einer gemeinsamen Leidenschaft für das Leben zu eröffnen. Solche Räume sind, es, in denen das Zwischen erfahrbar wird und damit alle Möglichkeiten und Potentiale in ihre Fülle bringt, sie wirklich werden lässt.

Das ist zweifellos ein kenotischer Weg. Er kommt nicht von oben, eher demütig von unten. Klaus Hemmerle steht dafür mit seinem programmatischen Satz: „Lass mich dich lernen,dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe“ (Klaus Hemmerle, Spielräume Gottes und der Menschen, 329)

Aber vielleicht gilt es, noch weiter zu gehen: Lass uns uns entdecken, unser Zwischen, unsere Sehnsucht, unsere Menschlichkeit, damit wir die Botschaft neu entschlüsseln und die Wirklichkeit, die du uns geschenkt hast.

Christian Hennecke/19.09.20

„Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit“ (Joh 4, 23)

Er ist da. Er ist voller Liebe da. Er geht voller Liebe jeden Weg und Irrweg meines Lebens mit. Er ist mit mir in meinen Nächten der Verzweiflung und Ausweglosigkeiten – er ist da in den Momenten großen Glücks und tiefer Freude, in der Stille und auch mitten unter den Menschen, in Kunst und Musik. Und er ist auch da, wenn ich die Ahnung habe, dass er weg ist. Das ist die Voraussetzung meines Betens. Wie sollte ich sonst beten?

Er ist da. Eines Tages begann ich, den zu entdecken, den ich vorher irgendwie gesucht, vielleicht schon empfunden, aber immer ersehnt hatte. Oder war es eigentlich umgekehrt? Ja, genau, es war umgekehrt: er kam ins Spiel, er „meldete“ sich in meinem Leben – und ich wußte instinktiv, dass Er es war, denn nur Er konnte so tief mein Herz berühren, tiefer in mir sein, als ich selbst in mir sein konnte. Und damit wollte ich ihn antworten – ich sehnte mich nach Gebet. Und suchte nach Wegen des Gebetes.

Natürlich habe ich als kleines Kind beten gelernt. Und ja, ich glaube auch, dass kleine Kinder sehr stark erspüren, dass es ein Geheimnis gibt, das sie umgibt, trägt, im Leben hält – und dass das „die ganze Welt in seiner Hand hält“. Nur: es fehlt natürlich eine Art und Weise, mit diesem Geheimnis umzugehen. Und das hat mich damals meine Mutter gelehrt. Noch heute kann ich Gebete sprechen, die wir damals jeden Tag gebetet haben. Das war normal, und das war schön. Ich bin in die Schule des Betens meiner Eltern gegangen. Und ich glaube, das ist eine erste wichtige Erkenntnis: Beten lerne ich von Betern, von Erfahrenen, denen ich glaube und mit denen ich glaube. Ohne diese erste Erfahrung – wie hätte ich gelernt, dem Geheimnis einen Namen zu geben und so hineinzuwachsen in handhabbare Formen und Rituale, in Feiern des Gebetes und der Liturgie.

Meine Gebetserfahrungen sind von Anfang an katholisch, also relativ. Denn es gibt unendlich viele Formen – aber sie sind alle Versuche, einen Raum zu gestalten für jene Wirklichkeit einer unglaublichen Begegnung in mir, einer Liebe, einer Kraft, einer Stimme, eines Lichtes. Diese Erfahrung, die jedem Leben geschenkt ist, kann auch verstummen, wenn ich keine Möglichkeit finde, auf sie zu antworten – wenn mir niemand hilft, mit der überwältigenden Liebe und Nähe umzugehen, die dieser Gott ist.

Ich bin also katholisch konfiguriert, habe Gebete gelernt. Aber das war erst der Anfang. Denn auch das, was ich gelernt habe, trägt mich zwar auch durch die Zeit, aber irgendwann in meiner Jugend begann etwas Neues. Immer wieder beginnt etwas Neues. Er kommt neu ins Spiel, er entzieht sich schmerzhaft – und ich streife vielleicht bestimmte Formen ab, entdecke immer mal wieder neue Formen und Gestalten des Gebetes, die diese tiefe Begegnung schützen und eröffnen. Ich lerne – und werde weiter lernen. Von erfahrenen Christen, von Gemeinschaften in Klöstern, von den Brüdern von Taizé, von evangelischen Geschwistern. Und manches, was ich erlebe, bleibt mir fremd – anderes ist genau richtig für mich. Aber ich weiß – wir sind verbunden nicht in den Formen des Gebetes, sondern in dem Raum, den die verschiedenen Weisen des Gebets eröffnen und schenken. Und dort begegnen wir ihm…

Wie können wir denn beten? Ich habe in den letzten Jahren vor allem drei Weisen des Gebetes tiefer entdecken dürfen.

Mein Infinitiv

Lesen, Schweigen und Hören: Vielleicht sind das die tiefsten Momente der vergangenen Jahre, ja Jahrzehnte. Schon als Jugendlicher habe ich mich morgens hingesetzt, um in der Schrift zu lesen – aber nicht nur zu lesen, sondern beim Lesen auch zu hören, mich anrühren zu lassen durch sein Wort. Für mich ist das eine Grundform geworden, die mich durch alle Jahre trägt – eine Art Gebetsinfinitiv: still werden – ein wenig in der Schrift lesen, bis mich etwas anrührt – warten auf sein Licht. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Es braucht einen Rahmen, eine halbe Stunde. Und es kann ganz schön anstrengend sein, wenn diese Stille leer zu bleiben scheint. Und es ist ein Weg der Treue, weil Ablenkungen innerlich und äußerlich mich dazu treiben, nicht mehr zu warten. Denn es geht beim Beten ums wachsame Warten, um die Begegnung in der Tiefe meines Seins: Gott ist mir näher als ich mir selbst – und ihn in mir sprechen zu hören, in lauten und leisen Zeichen, ist die Sehnsucht meines Lebens. Insofern besteht dieses Beten eben gerade darin, ganz „da“ zu sein. Mein geistlicher Guru erschloss es mir so. Im suchenden Gespräch mit der Samariterin fragt die Samariterin, wo denn der richtige Ort des Gebetes sei. Und wenn Jesus von der Anbetung „im Geist und in der Wahrheit“ spricht, dann meint er diese Wirklichkeit absoluter Präsenz im Präsens: in diesem Augenblick geschieht ewige Begegnung. Das ist es, worauf ich warte…

Mein Infinitiv im Plural

Beten hat für mich viel mit Gemeinschaft im Wort Gottes zu tun. Für mich ist das „Gospelsharing“ zu einer gemeinsamen Grundform des Betens geworden. Es war Oswald Hirmer, späterer Bischof von Umtata in Südafrika, der diese einfache und doch so tiefe Weise des gemeinsamen Hörens auf die Schrift entfaltet hat. Es ist deswegen viel zu wenig, von den sieben Schritten des Bibelteilens zu sprechen. Denn es geht um viel mehr.

Alles beginnt hier mit dem Gebet. Und dieses freie und einfache Beten in Worten, die jeder und jede in die Gemeinschaft der Teilenden sagen kann, hat nicht umsonst das Ziel, Ihn – den Herrn – in unserer Mitte zu begrüßen. Denn Er ist ja schon da – Er hat uns schon zusammengerufen, und nun können wir uns an Ihn wenden. Ich habe ergreifende Erfahrungen gemacht, in diesen Momenten der einfachen Gebete und Begrüßungen – und sie bedeuten doch einen radikalen Ortswechsel, einen Standortwechsel: denn jetzt sind wir nicht mehr eine Gruppe von Menschen, sondern gesammelt von ihm, wir hören seinem Wort zu, wir schweigen und lauschen und wir werden – wie die Emmausjünger – erleuchtet und entzündet, und tauschen uns aus darüber, was wir verstanden haben. Das schenkt mir so oft eine ungeheure Fülle, macht so reich – an Erkenntnis und an Energie. Und es schenkt die Erfahrung des Kirchewerdens.

Die Bischöfe Ostafrikas haben deswegen auch formuliert, dass diese Erfahrung in „small christian communities“ eine veritable Kirchenerfahrung ist: „the most local incarnation of the one holy catholic and apostolic church“ – und diese Kirchenerfahrung, die mir so kostbar ist, ist auch und gerade eine Gebetsschule, eine Schule des Hörens Seines Wortes, eines Schule der Gemeinschaft in seiner Gegenwart, eine Schule der Sendung. Und das alles ist einfach, grundlegend… – für meine alltägliche Praxis des Kircheseins.

Mein Futur zwei

Die mich am meisten überraschende Erfahrung der letzten Jahre war Taizé. Hier zeigt sich für mich die Fülle des Gebetes als gemeinschaftliche Lebensform und als Weg. In der Tat ist die Mitte von Taizé das Gebet, das gemeinschaftliche Gebet. Zuerst und vor allem ist es ein Mitbeten und Mitsingen mit den Brüdern von Taizé. Sie führen Woche für Woche immer wieder Menschen ein in ihr Beten, in einer einfachen Weise und Form des Hörens, des Singens, der Stille, die mich und viele berührt und erfüllt. Woran liegt das? Es wirkt alles so einfach – und alle können mitwirken, wie sie mögen: wir singen miteinander und preisen Gott in allen Sprachen, wir hören miteinander auf Gottes Wort, wir schweigen miteinander und hören, was er sagen will. Ich habe wirklich den Eindruck, dass die drei Gebetszeiten es immer mehr möglich machen, auch eine eigene Form des Betens zu finden.

Aber dieses Gebet setzt sich im Leben fort. Für mich – und für viele andere – prägt es auch die Stunden der Stille in den verschiedenen Kirchen. Für mich und andere prägt es die Begegnungen, aber auch die Arbeit. Gebet hat hier natürlich eine einfache liturgische Form in den Gottesdiensten, aber es wird zur Grundhaltung den ganzen Tag über. Und so wird deutlich, dass Gebet mehr als irgendeine Gebetsform: es beschreibt eben jene Existenz im Geist und in der Wahrheit – gemeint ist ein Leben in Seiner Gegenwart, die dann alles lebendig macht: sogar das Putzen der Klos, aber eben auch die Begegnungen in Gemeinschaft, das Essen, das Arbeiten – und die Zeit des Betens, bei denen ich den ganzen Tag mitten unter 3000 Menschen schweige und gut schweigen kann. Denn mir begegnet in diesem Alleinsein und in diesem Schweigen, aber auch in der Gemeinschaft immer… Er.´

Keine Frage. Das ist mein „Futur zwei“ – meine vollendete Zukunft, natürlich nur als Vorgeschmack und Anfang jener Wirklichkeit, von der der Seher in der Offenbarung spricht: „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott heraus aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein…“ (Offb 21, 2f).

Dann also ist Beten nicht ein speziell religiöser Akt. Es ist nicht das Suchen nach einer Verbindung mit einem fernen Gott – sondern umgekehrt: da dieser Gott da ist, als Licht, das alles erleuchtet, als Liebe, die alles zum Leben bringt, gehen und leben wir in Seiner Gegenwart: beim Bügeln, beim Kochen, beim Essen, bei den Hausaufgaben – immer stehen wir in Seiner Gegenwart.

Kein Wunder ist es dann, wenn am Ende der Bibel ein Gebetsruf steht: „Amen, Komm, Herr Jesus“ (Offb 22,20). Es macht deutlich, dass dieser Ruf nur eines will: dass wir in dieser Gegenwart existieren und dass sich das Leben aller entfalten kann – und so „Gebet“ ist: Stehen und Leben in der Gewissheit Seiner Nähe.

Und kein Wunder ist es dann, wenn Paulus im 1. Brief an die Thessalonicher am Ende sagen kann: „Betet ohne Unterlass“ (1. Thess 5,17). Klar, denn das macht unser Leben „echt“: Geist wird spürbar, Wahrheit und Echtheit erlebbar, wenn Er da ist.

 

 

Ich bin aufgewachsen in meiner katholischen Tradition. Und ich bin aufgewachsen in ökumenischer Gemeinschaft. Immer waren wir wenige Katholiken unter vielen evangelischen Geschwistern. In meiner Klasse am Gymnasium waren wir vielleicht zwei oder drei.

Und dann habe ich angefangen, Theologie zu studieren. Schon damals war ich existenziell gepackt von zwei Grunderfahrungen: dass Er, Christus, uns zur Gemeinschaft ruft, zu einer Liebe zueinander, deren innerste und erfahrbare Mitte Er selbst ist – und Er selbst Einheit stiftet – und dass Er, gerade auch durch sein Kreuz, diesen Weg eröffnet. Das hat mich innerlich bewegt.

Und siehe da: die Theologen, auf die ich stieß, waren allesamt evangelisch: Kazoh Kitamori, Jürgen Moltmann und Eberhard Jüngel wurden die, mit denen ich meine Grunderfahrung ins Wort bringen konnte, denken lernte und immer mehr begeistert war. Und dann stieß ich auf Dietrich Bonhoeffer – und der begeisterte mich vollends: ich kann wirklich sagen, dass er mein Kirchenvater wurde.

Und weil das, was mich zuinnerst bewegt, begeistert und führt, gar nicht konfessionell ist, sondern ursprünglich und präkonfessionell, habe ich immer darauf gehört, hingespürt, ob ich die ursprünglich einende Grundwirklichkeit in den Begegnungen, Aktionen, Veranstaltungen erfahren kann. Immer dort, wo es so war, wo die Geistkraft der Liebe verbindet, wo wir hingerissen werden von der Leidenschaft für die Menschen, wo sich diese Mystik des Zwischen ereignet, der heilige Raum der Begegnung von seinem Licht erhellt wird – da habe ich ursprünglich Kirche erfahren, da gab es keine Trennung mehr.

Das wurde später konkreter. Immer wieder konnte ich die Erfahrung dieser ursprünglichen Verbundenheit machen: bei den Leitungskongressen von Willow Creek, bei den Begegnungen auf evangelischen Kirchentagen – und vor allem ab dem Moment, wo wir gemeinsam entdeckten, dass uns Christen dieselben Fragen bewegen – oder eigentlich nur eine einzige: wie können wir heute das Evangelium verkünden, leben, bezeugen? Denn da wurde deutlich, dass die Energie der Tiefe in unserem Zwischen die Leidenschaft für diese Fragen befeuerte.

Das befeuerte unseren Weg hin zu dem wunderbaren Kongress Kirchehoch2 – und wir erfuhren, dass unsere Erfahrung eben nicht nur unsere Erfahrung ist – sondern eigentlich die Erfahrung und Sehnsucht vieler, die aufbrechen wollen in eine weitere Zukunft. Dieser Weg geht immer weiter, auch in neuen Formen

Amt? Eucharistie? Kirche?

Ich erinnere mich noch wie heute, als wir im Kloster Wülfinghausen diesen Kongress reflektierten. Wir spürten, dass wir am Anfang eines Weges stehen, und wir spürten auch, dass dieser Kongress uns auch geistvoll zusammengebunden hat. Fast spürten so etwas wie einen Gründungsmoment: sind wir nicht so etwas wie eine neue monastische Gemeinschaft? Dieser Geist durchzog unser Reden, Beten, Teilen und auch die Feier der Liturgie. Als ich erlebte, wie Nora Steen das Abendmahl feierte, wurde mir noch einmal tiefer deutlich, dass wir gewiss unterschiedliche Zugänge zum Abendmahl, zur Eucharistie, zu Amt und Kirche haben – aber eigentlich, in den unterschiedlichen Perspektiven und Gedankengefügen immer auf die gleiche Grunderfahrung zielen: auf den Herrn, der uns beschenkt mit sich selbst, dem wir danken und preisen.

Und ja, es ist Kirche – überall da, wo er unter uns ist, wo wir sein Wort hören. Und in diesen Erfahrungen, die in letzten Jahren immer mehr und immer dichter wurden, wurde mir ein deduktiver theologischer Zugang immer fragwürdiger, der die Defizienz zum eigenen Modell zum Maß der Wahrheit macht. Das kann nicht stimmen – oder besser: es stimmt nur, wenn ich einen einzigen Denkweg für den richtigen halte. Klar, wenn ich die scholastisch denke, dann werden andere Gedanken demgegenüber nicht genau dieselbe Aussagekraft haben – aber: muss ich so denken

Und umgekehrt sagt mir meine Erfahrung: wenn ich in Liturgien meiner evangelischen Geschwister bin, etwa im Wal in Hannover, oder in Laucha an der Unstrut, in Drübeck und anderswo – wie könnte ich ernsthaft auf den Gedanken kommen, dass hier nicht mit großer Tiefe und Ernsthaftigkeit Eucharistie gefeiert wird? Dass hier nicht ein sakramentales Grundverstehen vorliegt – und dass die Ordination eine Theologie des Amtes beinhaltet, die ich stimmig finde und nachvollziehen kann, auch wenn ich zutiefst eingegründet und überzeugt von der Theologie des Amtes meiner Tradition. Ja, und das habe ich genauso auch erlebt mit meinen orthodoxen und freikirchlichen Freunden und Geschwistern.

Wie begeistert ich war, als ich das neue Dokument des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen las, das brauche ich kaum zu sagen: die sorgfältige Theologie, die ich hier lesen kann, eröffnet weite Horizonte. Ich lese: „Jesus Christus hat den Menschen, die in seinem Namen zusammenkommen, seine Gegenwart versprochen (vgl. Mt 18,20). Er ist mitten unter ihnen, wenn auch nur zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln. Er vergegenwärtigt sich ihnen, wenn sie Gottesdienst feiern und sich ihm hörend, singend und betend zuwenden. Er verbindet sich mit ihnen, wenn Menschen die Taufe im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes empfangen, und macht sie zu Gliedern an seinem Leib. Er schenkt sich ihnen in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut, wenn sie sich unter dem Wort seiner Verheißung das Brot und den Wein in der eucharistischen Feier des Abendmahls reichen lassen. Die Zusage seiner Gegenwart überschreitet und umgreift die konfessionellen Grenzen und Grenzziehungen, die der sichtbaren Einheit der Christenheit im Wege stehen – sie ist in tiefstem Sinn ökumenisch. Sie ist der tragende Grund jedes einzelnen Schrittes der Ökumene. Wo auch immer Katholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Reformierte, Anglikaner, Baptisten, Methodisten in seinem Namen versammelt sind, erfüllt Christus sein Versprechen, mitten unter ihnen zu sein. Sie sind und werden in Christus geeint, lange bevor sie sich über die konkreten Formen ihrer Einheit verständigt haben und zu konkreten Verabredungen ihres Miteinanders gelangt sind.“ (2.1f)

Neu zu denken wagen

Wir leben in neuen Zeiten. Die Coronapandemie wird uns verändern. Auch in diesem Zusammenhang. Klar ist doch, dass sich die Gestalt der Kirche wandelt. Von einer stark amtsorientierten und kleruszentrierten Versorgungskirche mit einer bestimmten Amtstheologie und einem institutionsfixierten Kirchenverständnis entwickelt sich viel in Richtung einer stärker von Partizipation und Taufwürde geprägten Christsein, das ein viel fluideres Kirchenverständnis in den Vordergrund rückt: kommt es doch darauf an, die lebensspendende Erfahrung Seiner Gegenwart heute in Erfahrung zu bringen und zu bezeugen. Amt und Ordination, Eucharistie und Sakrament werden aber gerade nicht überflüssig, ganz im Gegenteil: angesichts der Erfahrungen neuer Aufbrüche, angesichts der Zeichen der Zeit und angesichts der Erfahrungen, die im Volk Gottes in den letzten Jahren hervorgewachsen und gereift sind, könnte die Entwicklungsbeschleunigung, die diese ungeahnte Corona-Katastrophe bewirkt, dazu herausfordern, unsere eigenen wertvollen theologischen Traditionen von der Wurzel neu zu denken: ja, denn Radikalität und Tiefe werden gesucht werden, wenn wir uns weiter auf dem Weg machen, Christsein in die Zukunft zu entwerfen.

Urbi et orbi! Die Bilder waren eindrücklich. Die Bilder vom Petersplatz. Sie spiegelten das Evangelium vom Seesturm wieder – und in all dem spiegelte sich die Herausforderung des Coronasturms, die – ja – die Kirchen tiefgreifend verändern wird. Der Papst auf einem leeren Petersplatz und doch verbunden mit der ganzen Kirche weist mit kraftvollen Worten darauf hin.

Aber wie? Daniel Bogner hat in seinem engagierten Beitrag Szenarien beschrieben. Und wenn ich die Diskussion in den letzten Tagen verstanden habe, gibt es in der Tat mehrere „Ausgänge“, eine Gesellschaft und eine Kirche in den Postcoronazeiten – falls es eine solche Situation überhaupt in absehbarer Zeit gibt – zu denken.

Autoritäre Regression, sich selbstverschließene Tendenzen, trotziges Weitertanzen auf den Vulkanen, das Vergessen der anderen – all das gibt es ja schon – und wird nur in unserem Coronaalltag greller sichtbar… als Horrorszenario einer Zukunft, die in der Tat offen ist. Neue Kleider, aber nichts Neues. Reale Möglichkeit.

Und auch kirchlich könnten wir weitermachen, Worte wiederholen, eine Praxis weiterführen, ein bestimmtes Gefüge weiterverwalten, so gut es eben geht – und uns zögerlich auf neue Horizonte hin entwickeln. Wie schwierig ist es, aufzubrechen, wissen wir. Denn wir sind gefangen in Gefügen des Denkens, der prägenden Erinnerungen – und die sind stark.

Aber die Veränderungsstürme, die uns Angst machen, und uns herausreißen aus einem Gefüge restvolkskirchlicher Praxis, sind stark. Es kann gut sein, dass mit einem solchen Sturm vieles sich verändern kann. Endlich.

Nicht dass uns das nur gefallen wird: die finanziellen Spielräume werden kleiner sein – und das beschleunigt schon in Gang gekommene Auflösungsprozesse einer hochstrukturierten Kirche. Ob sich eine in tiefer Krise befindliche Gemeindehauskirche fortsetzt, das ist mindestens sehr fraglich – schon länger als wir wahrnehmen wollten. Wofür brauchen wir so viele eigene Räume, wenn doch Kirche überall dort hervorwachsen kann, wo die Leidenschaft für das Evangelium sich Raum schafft? An jeder Ecke, in jedem Haus, mitten im Leben? Und das gilt auch für die Feier der Eucharistie – und für die Sakramente, die wir feiern. Es wird kein selbstverständliches Zurück geben, zumal ja schon lange deutlich wird, dass die Feier der Christusgegenwart, seiner Hingabe, seines sich-schenkens und seines Menschensammelns und Sendens nach einer inneren Qualität und Tiefe verlangt, die sich – in allen Konfessionen – nicht einfach dadurch zeigt, dass man es Gottesdienste veranstaltet und streamt.

So wird es wahrscheinlich eine liturgische Scheidung geben zwischen denen, die eigentlich gar nichts vermisst haben, und nun auch konsequent bleiben – und denen die voller Hunger und Sehnsucht warten – warten auf die Feier ihres Glaubens, auf die Erfahrung, neu genährt zu werden in der dreifachen Kommunion von Wort, Leib und Gemeinschaft. Und das fordert heraus, Liturgie so zu feiern, dass das Geheimnis der Begegnung mit Gott erfahrbar wird. So hat Liturgie eine Zukunft. Eine große Zukunft.

Denn genau diese Sehnsucht haben viele: schon vor Corona waren Gottesdienste immer vielfältiger und postkonfessioneller, gab es die unterschiedlichsten Formen von Segenshandlungen, wurde der Kontext immer wichtiger – und die Erfahrung, dass sich das Geschenk der Gemeinschaft und der Berührung mit dem Geheimnis, das wir Gott-Liebe zu nennen wagen, in unterschiedlichster Weise unseren postmodernen Zeitgenossen zuspielt. Das wird sich deutlich zeigen. Und das gilt für alle Lebensvollzüge unseres Menschseins, unseres Christseins, unserer Kirchen. Eigentlich sehnen wir uns alle nach dem Neuen. Aber das Neue, das ist nicht das „Weiter so“, das „Mehr, mehr, mehr“ desselben, sondern tiefe Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Eine neue Kultur

Genau hier setzt der Papst scharfsichtig an. Worauf kommt es eigentlich an, woraus leben wir eigentlich, und wozu sind wir gerufen? „Wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weiter gemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden…. Es ist die Zeit, den Kurs des Leben wieder neu auf dich, Herr, und auf die Mitmenschen auszurichten.“

Darum geht es eigentlich! Es geht um eine echte und gelebte Geschwisterlichkeit, es geht um die Leidenschaft für den Menschen, für den Anderen. Hier und jetzt. Hier und jetzt können wir auch sehen, wie das geht. Papst Franziskus sieht das mächtige Wehen des Geistes in all jenen, die in dieser Krise ihr Leben einsetzen, für die Menschen, die in ihrer Arbeit und in ihren Familien ihren stillen Dienst für andere tun. „Angesicht des Leidens, an die wahre Entwicklung unserer Völker gemessen wird, entdecken und erleben wir das Hohepriesterliche Gebet Jesu: „Alle sollen eins sein“.

Das ist die durch die Stürme freigelegte Perspektive: eine verletzliche und doch getragene und geschenkte Gemeinschaft aller, die wir spüren wollen, die wir immer wieder selbst verdecken und zerstören, aber die doch voller Leben ist, mitten in der Einfachheit der Sorge füreinander. Unsere Geschwister: in den Supermärkten, auf den griechischen Inseln, in den Kriegsgebieten, in den Krankenhäusern, in unseren Familien, bei den arbeitslos und lohnlos gewordenen Brüdern und Schwestern, bei den alten Menschen, die besonders ausgesetzt sind.

Und deswegen: „Der Herr fordert uns heraus, uds inmitten des Sturms lädt er uns ein, Solidarität und Hoffnung zu wecken, die diesen Stunden, in denen alles unterzugehen scheint, Festigkeit, Halt und Sinn geben“. Genauso. Denn dort, wo wir diese echte Mitmenschlichkeit leben, überall, wächst jener Raum, in dem auch Gottes Wohnung unter den Menschen ist, wo niemand egal ist, und alle, wirklich alle, geliebt. Das ist die Coronachance: Es geht darum, „der Kreativität Raum zu geben, die nur der Heilige Geist zu wecken vermag. Es bedeutet, den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen, und Formen der Gastfreundschaft, Geschwisterlichkeit und Solidarität zuzulassen.“ Immer, an jedem Ort – so sagt der Papst, denn genau hier wird das Geheimnis von Ostern freigelegt, das Geheimnis dessen, der durch den Tod uns den Raum zu Leben eröffnete.

Von dorther zu schauen und zu beten, und deswegen genauso zu leben, mit allen Menschen, die diese Sehnsucht spüren, das ist das Neue, das werden will, schon da ist und nicht wieder verdeckt werden darf.

Neugeburt der Kirche?

Aber dann gilt uns die Prophetie Bonhoeffers. Wir würden unfähig für diese Zukunft, wenn wir weiterhin um Selbsterhalt kämpfen. Dann nämlich, so Bonhoeffer, sind wir unfähig, der Welt das Evangelium wirksam zu verkünden. „Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun… Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – , an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu…, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt“ (DBW 8, 435f).

Sie spiegeln sich, der Papst und der evangelische Prophet. Und gemeinsam erwarten wir die Neugeburt. Nach den Stürmen der Veränderung.

 

Im Januar dieses Jahres war ich bei einem Workshop über Kirchenentwicklung. Und mit meinem Team haben wir erneut eine biblisch-liturgische Leiterzählung für diese Tage zugrunde gelegt. Intensiv haben wir über den kirchlichen Wandel nachgedacht und Wege zur Gestaltung dieses Wandels eingeübt.

Die Leiterzählung durch diese Tage war „Der Weg des Moses“. Schon oft haben wir diese Erzählung genutzt zum Innehalten, zur Vertiefung: die Berufung des Moses lenkt den Blick auf unser eigenes Feuer, auf meine Berufung; die Geschichte mit der Sehnsucht nach den ägyptischen Fleischtöpfen verweist auf unseren Umgang mit den eigenen Prägungen und unseren Revisionen. Die Geschichte mit dem goldenen Kalb – fragt sie nicht danach, welchen Ersatzgöttern wir nachgehen? Und schließlich: der Ausblick Moses auf dem Berg Nebu macht deutlich: ja, wir dürfen die Zukunft schon sehen, aber … eintreten werden wir vielleicht nicht.

Genial – der Weg des Mose eröffnet einen differenzierten Horizont, der Schlaglichter auf unsere gegenwärtige kirchliche Umbruchssituationen und ihre Herausforderungen wirft. Und gerade die kleinen Liturgien, die dann einzelne Reflexionsschritte vertiefen, sie sind es, die am meisten die Teilnehmenden berühren.

Mich hat dieses Mal eine Station auf diesem Weg am meisten berührt – und daran muss ich denken, wenn ich in unserer aktuellen Situation der Pandemie frage, wie es weitergehen kann und wird.

Jeder kennt die Geschichte der ägyptischen Plagen. Mose bittet den Pharao um den Auszug in die Wüste, damit das Volk Gott verehren kann. Der Pharao verweigert dies. Und nun kommen die Plagen, viele Plagen. Und immer wieder bleibt der Pharao hart. Und diese Härte, dieses Bleibenmüssen ist wie eine Fessel. Das Volk kommt nicht los…

Als wir dieses Mal diese Station auf dem Weg des Mose durchwanderten und durchbeteten, hatte ich plötzlich einen Gedanken: Wieviele Plagen braucht es eigentlich, bis wir uns aufmachen können und auf neue Wege gehen? Ein erschreckender Gedanke…

Aber ein Gedanke, der nicht unrealistisch ist. Denn wie oft bleiben wir doch lieber da, wo wir waren. Und keine Einsicht, keine Erkenntnis, keine noch so schwierige Situation bringt uns wirklich in Bewegung. In den vielen Situation kirchlicher Bestandswahrung habe ich erlebt, wie oft Wirklichkeit, geschichtliche und soziologische Entwicklungen, Fakten und Zahlen verdrängt werden und immer wieder die Fixierung auf das Vergangene durchscheint.

Wie viele Plagen braucht es eigentlich, um loszuziehen? Diese Frage gewinnt auf einmal eine herausfordernde und auch schrecklich-erschreckende Bedeutung. Die Coronapandemie stellt alles bisher Gewohnte auf den Kopf. Sie ist einschneidend. Und sie fordert uns im Kern heraus, neue Wege zu gehen. Die Fragen gehen an die Substanz unseres Menschseins und unseres Glaubens. Denn dieser Virus fordert ein Paradox: wir können in der gewohnten Weise nicht mehr zusammenkommen, keine Gottesdienste mehr feiern, das ganze klassische Leben in Gemeinschaft nicht mehr weiterführen – und entdecken zugleich neu, wie wichtig Beziehung ist, wie sehr wir gar nicht anders leben können. Als Menschen und als Christen.

Löst uns diese Pandemie von unseren Blockierungen, in denen wir uns leidenschaftlich und leidend eingerichtet haben? Erzwingt sie die Zukunft, weil es eben wirklich nicht mehr geht? Können wir in die Zukunft gehen, weil auf einmal bestimmte Fragestellungen, die sich auf den Erhalt bestehender Gefüge und Sozialgestalten, überflüssig werden? Könnten sich jetzt Erfahrungen durchsetzen, die unsere Gesellschaft und die Kirchen in ihr von innen, aus der Substanz her erneuert. Diese Substanz heißt Liebe, sie heißt Beziehung. Eben Gott.

Das wäre ein einschneidender Wandel. Kaum denkbar. Oder doch? Der Zukunftsforscher Matthias Horx schlägt in seinem Blog „Die Welt nach Corona“ (www.horx.com) einen Perspektivwechsel vor: keine Pro-gnose für die Zukunft, sondern eine „Re-gnose“. Und er mutmaßt, dass gerade durch diese Krise die Kraft und Bedeutung der echten Beziehungen zum Vorschein kommt und in die Mitte rückt. Und wir endlich aus den Schneckenhäusern fixierender Fragestellungen ausgezogen ist. Ich mag es glauben.

Aber dann stehen wir auch kirchlich vor einer einschneidenden Veränderung. In einem nur auf italienisch verfügbaren Artikel (http://www.settimananews.it/chiesa/chiesa-italiana-occasione/) denkt Francesco Cosentino über diese Frage nach. Er spricht davon, dass diese Krise, die für die Kirche eine einzigartige Gelegenheit ist, auch die „Büchse der Pandora“ öffnet: Fragen, die sich schon lange stellen, stehen dringend vor uns: welche Art von Spiritualität, welche Art von Kirche leben wir? Welche Fragen drängen?

Nur die Messe – egal wie?

Ist die Kirche eine Messfabrik, fragt Cosentino, und sollte etwa die Spiritualität sich ganz auf die Messe verengt haben? Dann hieße es jetzt: Messe oder nichts? Cosentino zitiert den deutschen Theologen und Benediktiner Elmar Salmann: „Bis heute haben wir eine Pfarrei oder nichts, einer wird Priester oder hat keine wichtige Rolle, entweder man heiratet in der Kirche oder es gibt nichts. Man wird getauft oder es bleibt nichts“. In der Tat, so kann es nicht weiter gehen: die Sakramentalisierung dominiert die Evangelisierung, wie Franziskus in Evangelii Gaudium richtig diagnostiziert.

Ohne die Tiefe sakramentalen Lebens aus den Blick zu verlieren: Müßte in dieser Zeit nicht eine breite Spiritualität des Wortes in den Mittelpunkt rücken? Und wenn ich richtig sehe: genau das passiert. Wer wie ich den Abend in Taizé mit 4000 Mitbetern verbringt, wer im Netz die fantastischen Initiativen spiritueller Telefonkonferenzen oder Facebook-Events verfolgt, der merkt: hier ist ganz viel im Werden.

Mystik in der Zeit des Netzes

Auch in Evangelii Gaudium hat es der Papst ans Licht gebracht: „Heute, da die Netze und die Mittel menschlicher Kommunikation unglaubliche Entwicklungen erreicht haben, spüren wir die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt. Auf diese Weise werden sich die größeren Möglichkeiten der Kommunikation als größere Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität zwischen allen erweisen. Wenn wir diesen Weg verfolgen könnten, wäre das etwas sehr Gutes, sehr Heilsames, sehr Befreiendes, eine große Quelle der Hoffnung!“ (EG 87).

Auch wenn dies in Zeiten von Corona oft nicht physisch geht – ist denn diese Mystik weniger real, wenn sie sich im Netz zeigt? Ich erfahre das nicht – und es wäre auch merkwürdig, wenn wir Kirche nur physisch, in Bauwerken und Vereinen erleben könnten. Im Gegenteil. Wird diese Krise nicht auch hier Neues zeigen: welche Art von Gemeinschaft, welche Formen des Kircheseins, welche Begegnungsweisen mit Gott rücken nach vorne.

Die samaritanische Revolution

Das Evangelium der Samariterin am Jakobsbrunnen führt zu einer Klärung, die dringend ist, für uns heute, mit all den theologischen und soziologischen Scheinnormen: „Glaub mir Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbetet… die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden in Geist und in Wahrheit: denn so will der Vater angebetet werden“ (Joh 4,24). Gott, so twittert meine Kollegin Maria Herrmann, ist eben auch vor den leeren Regalen im Supermarkt, in zu engen Wohnungen, im Paketlieferwagen und an Europas Grenzen. Er geht mit uns diesen Weg, eben nicht nur in der Krisenzeit. Und Kirche wächst dort, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind – und das ist eine Kirche, die aus der Kraft der Taufe lebt. Es geht darum, so Franco Cosentino, „in allen Dingen Gott zu suchen und zu finden“ Er spricht von einer Theologie des Alltäglichen, die „das ewige Wunder und das schweigende Geheimnis verbirgt, das wir Gott nennen“ (Karl Rahner).

Die Felder sind reif

Die Geschichte der Samaritanerin geht weiter. Und Jesus konfrontiert die Jünger mit seiner so ganz anderen Weltsicht. Er sieht nämlich schon, gerade bei den so heterodoxen Samaritanern, einen großen Aufbruch: „Erhebt eure Augen und seht, dass die Felder schon weiß sind zur Ernte“ (Joh 4,35). Ja, und genau das sehe ich auch. Es könnte ja sein, dass wir – nach den erzwungenden Einschnitten der Coronakrise – endlich loskommen und aufbrechen in eine Kirche, die aus der Kraft der Getauften lebt. Wir stehen vor einem einschneidenden Wandel. Ich hoffe, dass wir nicht noch mehr Plagen brauchen, um endlich loszuziehen.

 

 

Nachdenken über ein gemeinsames Thema zwischen Gericht und Gnade

Wer über das Thema nachdenken will, und wer dies theologisch tun will,  der kommt auf ganz wesentliche Grundfragen: wie steht Gott zur Welt? Und wie steht die Kirche in der Welt – die Kirche, die ja nichts anderes sein darf, als Zeichen und Werkzeug der Sehnsucht Gottes nach dem Menschen, Verleiblichung seiner Leidenschaft der Liebe für jeden.

Aber noch mehr ist wichtig: diese Welt, wie sehen wir die? Und die Kirche, wie sehen wir die? Wir schauen nämlich nicht ganz einfach neutral darauf, sondern haben unsere Muster und Bilder, die sich dann auswirken. Es ist deswegen ein erster Schritt, meine Perspektive kenntlich zu machen:

Mission in der Diaspora – ein gelassener Blick

1943 schrak der damalige Kardinal Suhard in Paris auf. Henri Godin, ein französischer Priester hatte ein Buch geschrieben, das zutiefst erschreckte: France – pays de mission… Suhard war überrascht von den Daten und Analysen. Godin beschrieb ein nachchristliches Frankreich. Und in der Tat – seine Einschätzung war ja richtig. Und sie wurde auch in Deutschland geteilt. 1948 redete Ivo Zeiger SJ auf dem ersten Nachkriegskatholikentag ebenfalls davon.

Und es gibt einen spannenden Wahrnehmungskonses zweier Propheten derselben Zeit. Auch Alfred Delp SJ und Dietrich Bonhoeffer erahnten unabhängig voneinander einen tiefgreifenden Wandel. Sicher nicht unabhängig von ihrer Situation der Gefangenschaft formulierten sie Gedanken für eine Zukunftsgestalt der Kirche, die radikal waren: er spricht von einen Neubeginn, von der Notwendigkeit, sich vom Glauben neu ergreifen zu lassen, nicht mehr als Kirche um sich selbst zu kreisen. Das „Beten und Tun des Gerechten“ ermöglicht ein radikales Neuwerden, das aber nicht „machbar“ ist: im Gegenteil, es geht um eine Umkehr und Busse, und das Warten auf den Tag eines neuen Anfangs.

Wenn nun Thomas Großbölting („Der verlorene Himmel“) als Historiker analysiert, dass schon 1948 die Verantwortlichen katholischer Jugendpastoral eine grundlegende Veränderung des Glaubenszugangs bemerkten, ahnten und… fürchteten, und deshalb nicht öffentlich damit umgingen, dann wird nur 10 Jahre später auch an Zahlen deutlich, wie irreversibel sich die Situation geändert hat. Christlicher Glaube wird freie Entscheidung, Ausdruck selbst gewählter Überzeugung – und das zeigt sich an den sinkenden Zahlen der kirchlichen Praxis seither, die dann seit 1968 auch in den Austrittszahlen überdeutlich werden.

Wer dann hier vom drohenden Untergang der Kirche redet, der hat ein bestimmtes „Muster“ im Kopf: ist es tatsächlich normativ, dass viele Christen in einem Land leben? Ist tatsächlich die parochiale Gemeindestruktur vom Evangelium her zu begründen? Muss Christentum ein mehrheitliches Phänomen in unserem Land sein? Wie kommt es eigentlich zur theologisch nicht gedeckten These, dass man den „Glauben an die nächste Generation (methodisch intelligent) weitergeben“ könne?

Aber wir wissen alle: die Gesellschaft und die Kirche in ihr haben sich völlig verändert. Das Paradigma einer Volkskirche stimmt nicht mehr. Gar nicht mehr. Und so ist auch Achtsamkeit geboten: Wer einfach so von Neuevangelisierung oder Evangelisation redet, der kann auf dem alten Muster einer Volkskirchlichkeit ja immer noch denken, dass man mit Anstrengungen endlich Europa, Deutschland oder eine Kirche wieder christlich machen könne, und Menschen zurückgewinnt, für was? Für eine Eingliederung in eine vergehende Gestalt christlichen und kirchlichen Lebens? Nein – wir sind an einer anderen Stelle.

Mission vom Ursprung her denken

Klar ist ja: nur derjenige, nur diejenige, die leidenschaftlich ergriffen ist von Christus, nur „missionarische Jünger“ (Papst Franziskus) werden glaubwürdig das Evangelium bezeugen und den Menschen unserer Zeit eindrücklich vom Evangelium erzählen. Aber dabei gilt es genau, diese unsere Zeit zu bedenken. Es ist Christoph Theobald, der französische Jesuit und Theologe, der dies in eindrücklicher Weise tut:

„Müssen wir als Katholiken und Theologen – um zunächst nur von uns zu reden, nicht ein neues Verhältnis zu unserem Kontinent finden? Als Menschen in einem Land, das wir zwar gerne bewohnen, das uns aber nicht als Christen gehört? Ein Missionsland eher, in dem wir – wie die ersten Christen – für unseren Glauben um Gastfreundschaft werben müssen. Geht es doch darum, Herzen zu gewinnen und frei Mitbürger davon zu überzeugen, dass im Glauben an das Evangelium ungeahnte Lebenskraft verborgen ist.“

Es geht Theobald also nicht um eine Mission, die Menschen „wieder“ zurückgewinnt, und Europa „wieder“ christlich macht. Es geht eher um eine Situation, die der Apostelgeschichte ähnelt: Christen sind am Anfang des Weges, hoffen auf Resonanz, aber leben aus einer inneren Sendung und fragen sich, wie das Evangelium den Menschen der Zeit nahekommen kann. Sie vertrauen dabei auf die Verheißung Jesu: „Die Ernte ist groß“ – und deswegen ist die Rede von der Diaspora auch nicht eine Mangelbeschreibung, sondern die Grundwirklichkeit der Christen in der Welt von heute.

Aber wie geht dann Mission? Welchen Ursprung kann man bebildern? Der Ausgangspunkt wird schon im Johannesprolog eindrücklich reflektiert: Am Anfang war das Wort…, so sagt der Autor. Und damit ist ja gemeint, dass die gesamte Wirklichkeit Gottes und der Welt geprägt ist von einer Logik des Lichtes und der Liebe. Dieses Licht, diese Liebe ist das Leben der Menschen. Aber genau hier wird – schon zu Beginn des Evangeliums – der Weg beschrieben, den diese Logik der Liebe geht: das Wort wird Fleisch, lässt sich ein auf die Menschen seiner Zeit – wird Mensch wie sie. Mission ist also eine eigenartige Erfahrung des Hineinspringens in die Welt, aus Liebe, um ganz bei denen zu sein, die die Liebe erfahren könnten. Viel deutlicher wird das dann bei der Taufe Jesu: wenn Jesus die tiefe Liebe des Vaters unfasslich nah erfährt, wird ja auch deutlich: diese Erfahrung gilt allen.  Und Jesus versucht von Anfang an, dies in der Sprache der Menschen auszudrücken, in ihren Bildern und ihren Erfahrungen. Die Rede vom Reich Gottes, die Rede vom Samenkorn macht deutlich: Jesus ist ganz in der Welt der Menschen seiner Zeit, und lehrt die Jünger einen Blick, der das Leben des Reiches Gottes entdeckt mitten unter den Menschen: Ja, die Felder sind reif zur Ernte, die Welt ist gottvoll.

Theologisches Innehalten

Hier beginnt die Herausforderung im Denken über die Mission. Denn ja, eigentlich geht es bei dieser Frage um das Weltverhältnis: Denn es ist die Frage, wie Gott die Welt sieht, und wie deswegen wir als Gesandte den Menschen begegnen. Hier liegen die Kontroversen: ist denn wirklich die Welt gottlos, geistlos? Und sind wir deswegen dazu da, die verlorene Welt für Christus zu gewinnen, weil sonst alle dem Gericht und dem Unheil geweiht sind?

Genau das lässt sich kaum mit dem Evangelium von der Liebe her lesen, es wird der Wirklichkeit der Leidenschaft Christi, seinem Sterben für die Menschen nicht gerecht. Ja, denn weil Gott die Welt so geliebt hat, dass er seinen Sohn hingab, lässt sich – im Blick auf Jesu Sterben und seinem Weg durch die Gottverlassenheit – die Weltwirklichkeit nur verstehen als geliebte und gerettete. Das ist die Gnade, die geschenkt ist – und das Gericht bleibt wichtig, weil hier ja erst die Dramatik und Radikalität der erlösenden Liebe offenbar wird, die den Menschen ausrichtet und ihm doch die Wahl gibt, sich dieser Wirklichkeit zu öffnen.

Hier liegt – sicher – die entscheidende Frage an die Mission. Wenn sie nicht deswegen sein muss, weil der Liebe noch etwas fehlt, dann werden wir dennoch innerlich gedrängt, bei den Menschen zu sein – in der Radikalität der Inkarnation, in der Radikalität der Hingabe,

Genau so beschreibt die anglikanische Missionslogik den Weg der missionarischen Ekklesiogenesis: es geht nur so, dass leidenschaftlich Liebende sich einlassen auf die Menschen ihrer Zeit, um mit ihnen das Evangelium neu zu entdecken. So beschreibt es genial auch der verstorbene Bischof Klaus Hemmerle im Blick auf die jungen Menschen – aber das gilt für jede Gruppe von Menschen. Er formuliert: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fühlen und Handeln, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir auszurichten habe…“ Damit greift Hemmerle auf, was schon das II. Vatikanum im Blick auf die Sendung sagte. In Gaudium et spes, der Pastoralkonstitution, die das Verhältnis der Kirche zur Welt reflektiert, formuliert das Konzil deutlich, dass es notwendig ist, immer wieder neu die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu deuten, die Sprachen der Zeit zu lernen und zu unterscheiden, was hier vom Geist Gottes kommt. Doch zugleich ist diese Missionsleidenschaft ein großes Lernen: nur so, im Hinhören, im Lernen der Sprachen der Zeit, wird das Evangelium überhaupt auch selbst verstehbar und tiefer zu erkennen. Es strahlt gerade so in seiner Radikalität in jeder Zeit je neu auf.

Hier wird dann noch tiefer verständlich, was die anglikanische Kirche im Begriff der „mission shaped church“ so genial in Worte fassen konnte. Dahinter steckt eine Erfahrung, die deutlich macht, dass gerade dann, wenn wir mit Menschen unserer Zeit das Evangelium neu entdecken, wir auch das Evangelium neu entdecken und Kirche neu werden kann.

Es wird dabei sehr deutlich, das diese kenotische Mission aus dem Ursprung immer geprägt ist von einer tiefen Absichtslosigkeit: es geht um eine Liebe, die ohnmächtig bleibt, aber gerade so einen Raum eröffnet, in dem Gottes Gegenwart Menschen berühren kann.

 

 

Erwägungen zum Umbruch in der Kirche[1]

Wir sind mitten im Wandel, in einem großen Umbruch, in unserer Gesellschaft, in der Welt. Und jeder Wandel, jede größere Veränderung ist auch eine Nacht. Denn die alten Paradigmen versagen, wir haben keine Parameter mehr, um die Situation zu verstehen. Es ist verwirrend und wir bekommen Angst.

Und es ist irgendwie paradox: denn einerseits ersehnen wir diesen Wandel. Wir spüren sehr deutlich, dass unsere Art zu leben an ein Ende gekommen ist. Zuviel Müdigkeit und Hetze, zu viel Depression. Und gleichzeitig wollen wir den Wandel nicht, er ist nicht erwünscht, denn wir müßten uns ja ändern. Insgesamt sind wir also inmitten von ambivalenten Gefühlen, inmitten einer großen Unübersichtlichkeit und Komplexität. Und das merken wir auch daran, dass der Ton der Auseinandersetzung rauh geworden ist. Polarisierung ist ein Stichwort dieser Situation – sie bezeugt den Kampf der Interpretationen um diesen Umbruch. Und so suchen viele nach Orientierung, nach starken Männern, nach populistischer Einfachheit und Lösungsvorschlägen, die simpel zu sein scheinen. Sie alle zielen auf Sicherheit und auf eine Rückkehr zu verheißungsvoll alten Zeiten.

Aber es gibt auch eine andere Suche – eine Suche nach Geist, nach Charisma. Es gibt eine Suche, eine große Suche nach etwas, was mich anrührt und „berührt“, mich mitreißen kann und auf neue Wege führt. Greta Thunberg etwa steht dafür, und ich bin überzeugt, dass auch andere einen große Begeisterung entfachen würden, wenn es diese Menschen gäbe, die glaubwürdig leben und bezeugen. Denn es gibt in den Menschen einen „sensus“ für Authentizität, für Zukunft, für echtes und gutes Leben – wie zu allen Zeiten.

Und die Kirche?

Wir sind als Kirche genau in derselben Situation. Wir leben einen ungeheuren „Klimawandel“, der sich seit mehr als 60 Jahren abzeichnet und in allen Generationen wirksam wird. Glauben wird völlig anders – und so auch Kirche. Glauben, christlich geprägter Glaube liegt nicht mehr einfach vor, ist nicht mehr einfach gegeben. Für niemanden ist Glaube selbstverständlich, für jeden ist Glaube ein Weg, eine Wanderung, eine Spur hin zu einer Begegnung mit dem Geheimnis, das Christus ist. Und wenn Glaube dann wächst aus einer unplanbaren und nicht erziehbaren Begegnung, dann wird auch Kirche ganz anders. Auch sie lässt sich nicht mehr institutionell vorgeben, sie ist kein Rahmen mehr, kein soziologisch vorgegebener Container, in dem „man“ (und „frau“) halt ist und sein muss. Es geht um etwas ganz anderes: um Räume der Erfahrung, um anziehende Gegenwart und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, um Atmosphäre der Freiheit und Freude. Das hat allerdings nichts mehr mit vorgegebenen Sozialformen zu tun, sondern mit flüssigen Erfahrungsräumen….

Aus diesem Grund stimmen auch die Zahlen nicht mehr. Ja klar, man kann dann von immer kleineren Zahlen der Kirchenbesucher reden, von der Halbierung der Kirchenmitglieder – aber was sagt das genau? Was sagt das anderes als dass wir in der Wandelnacht sind, in einer tiefgehenden Verwandlung, die wir ersehnen und zugleich fürchten. Denn wie könnte man die Zahlen des Kirchgangs etwa aus dem Jahr 1960 mit den heutigen vergleichen, wenn doch die Art und Weise, wie Menschen glauben, sich komplett verändert hat.

Wir stehen – wie alle unsere Zeitgenossen – also in der nächtlichen Unübersichtlichkeit des Wandels, voller Sehnsucht nach Echtheit und Authentizität, nach Glaubwürdigkeit, nach Charisma und Orientierung, nach Identität, nach einem Verstehen in dieser Situation. Wie kommen wir weiter? Wie können wir das deuten?

„Frag hundert Katholiken, was das wichtigste in der Kirche ist – und sie werden sagen: die Messe.
Frag hundert Katholiken, was das wichtigste in der Messe ist – und sie werden sagen: die Wandlung.
Sag hundert Katholiken, das wichtigste in der Kirche sei die Wandlung – und sie werden sagen: Nein, es soll alles so bleiben wie es ist“.

In dieser Abneigung steckt eine tiefe Wahrheit, eine tiefes Spüren. Denn ja, Wandel ist kein Kinderspiel. Es geht bei diesem Wandel immer auch um ein Sterben, um einen Tod – und eine Auferstehung.

Aber dann heißt das auch, dass wir Christen uns fragen dürfen, ob wir das glauben: Glauben wir, dass Gott mit uns auf dem Weg ist, durch die Nacht, durch Tod und Auferstehung – dass er mit seinem Volk, mit uns, auf dem Weg durch die Wüste der Deutungen geht? „Meine Wege sind nicht eure Wege“, ja, aber er ist mit uns auf solchen Wegen. Und die gilt es zu erkennen.

Und deswegen gilt es – zweitens – zu hören: auf die Zeichen der Zeit, und auf das Evangelium. Denn in diesem Hören kann entdeckt werden, welche Wege er mit uns geht. So formuliert es das II. Vatikanische Konzil: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart und Absicht Gottes sind.“ (GS 11)

Gottes Geist ist in der Welt, die Welt ist voll von Gott. Sie ist nicht gottlos, mitten in ihr, im Engagement, in der Leidenschaft für das gute Leben, für die Liebe, für Solidarität, Gerechtigkeit und Frieden ist der Geist wirksam. Und ja, es wäre jetzt spannend, sich zu fragen, wie wir das merken. Wir könnten es  – so der Text – in uns merken, in den Menschen der vielen Glaubenswege und Lebenskonzepte, in den aufbrechenden Megatendenzen, in der Resonanz der Klimabewegung. Überall. Nun ist das Konzil nicht naiv. Es braucht einen gemeinsamen, einen synodalen Horizont: gemeinsam will zusammengetragen werden, was an Erfahrungen und Entdeckungen gemacht wird, welche Forderungen und Wünsche es gibt – und dann gilt es zu hören, was das Evangelium dazu sagt, und zu entscheiden. Kein leichter Weg. Aber unvermeidlich.

Denn es geht um mehr als nur um die Absichten Gottes: es geht auch um unser eigenes Glaubensverständnis. So formuliert es Gaudium et spes 44. Hier wird deutlich, dass diese Unterscheidungsarbeit für uns sehr viel bedeutsamer ist. Denn sie verändert uns. Ja noch mehr: das Konzil sagt, dass wir nur so unseren Glauben richtig und neu entdecken können – und auch sagen. Mit anderen Worten: nur wenn wir den Geist entdecken, der in allem und in allen wirkt, entdecken wir unseren Glauben heute. Es geht eben nicht darum, die alten Formeln immer zu wiederholen, nein: es geht um eine Verheutigung, um die Neuheit unseres Glaubens, den wir nur mit dem Anderen entdecken.

Genial formuliert das der verstorbene Bischof Klaus Hemmerle aus Aachen. Im Blick auf die Jugend und ihre Fremdheit formuliert er genial (und man muss es mehrmals hören): „Lass mich dich lernen, deine Denken und Handeln, dein Spüren und Glauben, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir auszurichten habe“. Ja, wir sollen unseren Glauben verkünden – aber wie geht das? Wenn wir lernen! Lernen von den Menschen, mit denen wir leben. Aber eben nicht oberflächlich – ihre Trends und Schwächen. Sondern indem wir ihre Kultur lernen, ihr Fühlen, ihre Sprache, ihr Leben und darin und im Hören auf die Frohe Botschaft neu lernen, was unser Glaube ist, seinen heutigen Reichtum – dann können wir ihn bezeugen und sogar sagen.

Wenn das so ist, dann wird unser Wandeln durch die Nacht natürlicherweise Momente enthalten, in denen wir neue Orientierung suchen – und sie finden wir, wenn wir achtsam die Stimmen der Mitmenschen und des Evangelium hören und verstehen lernen. Wir verstehen dann auch, dass Wandel wesentlich zu diesem Weg gehört, und wir als Christen neu denken lernen, neu sehen lernen.

Das ist nicht neu. Das geschieht in jeder Zeit, in jeder Krise. Und ja, in jeder Krise des Volkes Gottes. Und die sind eher häufig. Wenn man so im Alten Testament und im Neuen liest, dann stellt man fest: es geht um Krisen, immer wieder, von Krise zu Krise geht Gott mit seinem Volk.

Eine dieser Krisen ist das Exil. Das Volk Israel ist verzweifelt, in der Deutungsnacht. Wie soll man den Verlust verstehen, das Verlieren aller Sicherheiten, und eine neue Situation mitten in der Fremde… In dieser Situation spricht Gott durch den Propheten Jesaja: „Schaut nicht mehr auf das, was früher war, auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht mehr schauen. Seht, ich schaffe Neues – schon sprosst es auf! Merkt ihr es nicht?“ (Jes 43, 18).

Ein bemerkenswertes Wort! Vorher hatte Gott durch Jesaja gesagt, dass in der Vergangenheit es immer Gott war, der sein Volk gerettet hatte – und es führte durch die Wüste, und durch alle Probleme hindurch. Und jetzt sagt er: darauf sollt ihr nicht mehr schauen. Und nicht etwa, weil das Vergangene schlecht war – im Gegenteil! Aber es ist nicht heute! Heute will Gott erfahren und gesehen werden – und heute schafft er Neues. Nicht wir müssen neues schaffen, das tut er, mitten vor unseren Augen. Gott fragt deswegen: „Merkt ihr das gar nicht?“ Nun ist es für Gott kein Problem: das Neue wächst durch ihn, auch wenn wir es nicht merken. Aber er möchte es mit uns sehen. Und damit das geschehen kann, können wir uns einlassen auf das, was er uns heute zeigt…

Die Ernte ist groß

Jesus sendet seine Jünger aus. Sie haben eine Wirklichkeit erlebt und im Herzen. Das Reich Gottes, das sie ergriffen hat, werden von Jesus gesandt: sie sind gesandt, diese Wirklichkeit anzukündigen („Das Reich Gottes ist nah“) und Kranke zu heilen. Spannend aber ist dabei der Kontext. Jesus sendet die Jünger „ohne alles“, ohne Mittel. Sie sind ausgesetzt, ausgesetzt den Begegnungen, die sie haben werden. Und Jesus fügt hinzu: „Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeitet… Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte zu senden…“

Das ist spektakulär. Denn die Sicht Jesu auf die Wirklichkeit sieht in den Menschen schon den Sinn und die Grunderfahrung für das Reich Gottes angelegt. Und damit spricht er von „Ernte“: es ist schon so viel da, und es will gehoben werden.

Das ist auch unsere Situation. Es geht nicht darum, ein bestimmtes Gefüge und System des Kircheseins wiederherzustellen, zurück in eine Vergangenheit zu gehen, sondern eher entspricht unsere Situation der der frühen Christen und damit der Apostelgeschichte: wir wissen nicht genau, wie „Kirche“ geht, sondern es geht darum, sich vom Geist aus führen zu lassen und zu entdecken, wie der Geist heute wirkt. Und er wirkt.

Ich möchte einige solcher Erfahrungen erzählen…

  • Mich hat vor einiger Zeit eine junge Frau gebeten, eine Gruppe von Christen zu begleiten. Eine spannende Erfahrung: sie gehören alle zu einem christlichen Netzwerk einer großen internationalen Beratungsfirma. Sie sind immer unterwegs, an ganz unterschiedlichen Beratungsorten. Und sie treffen sich monatlich am Telefon, zu einem „biblecall“: am Telefon findet dann für eine halbe Stunde eine Bibelgespräch mit Gebet statt. Und zweimal im Jahr treffen sie sich, um an einem Ort geistliche Tage zu verbringen. Ich war und bin immer noch begeistert: die Sehnsucht nach Tiefe und die Freude, die ich bei diesen meist jungen Menschen erlebt habe, als wir und in Rom für zwei Tage trafen, hat mich berührt. Hier wächst Kirche in einer neuen Form und einer neuen Dynamik – aber ohne dass das für irgendjemanden sichtbar werden würde.
  • Ich denke an meine Erfahrungen in Taizé. Hier begegne ich einem neuen Paradigma von Kirche. Ja, denn hier können alle auf ihrem Weg ein Stück weiterkommen.; hier geschieht Tiefe des Gebets und alltägliches Leben. Hier wächst Gemeinschaft in intensiver Weise – und hier zeigt sich Identität des Christlichen, die offen ist für alle. All dies geschieht in einer Atmosphäre, die Menschen verändert und prägt. Und ja: natürlich ist dies nur eine Woche, und es scheint nur ein Event – aber in Wirklichkeit ist es wirklich eine Schule des Evangeliums, die jeden und jede freilässt undden Raum zum Wachstum schenkt.
  • Ich denke an katholische Kindertagesstätten, die ich kenne: selten so wie dort habe ich erlebt, was Kirche in Zukunft heißen kann: wie Menschen nach einer Atmosphäre für ihre Kinder suchen, die sie wachsen lässt – und wie in diesem Kontext Erzieherinnen im Team miteinander und mit Kindern ihren Glauben leben. Denn Kirche ist nicht an einen Ort gebunden, der einen Kirchtumr hat, sondern an Menschen, die im Namen Jesu verbunden sind und aus dieser Kraft leben. Hier zeigt sich, wie lebensraumorientiert Kirche in Zukunft sein will und wie ökumenisch sie ist – aber hier zeigt sich auch, wie – an einem solchen Ort etwas von der Kraft des Evangeliums bezeugt werden kann, dass Menschen berührt und weiterführen kann – auch wenn es manchmal nur wenige Jahre sind.

Solche Erfahrungen gibt es viele. Erfahrungen, die eine „flüssige Kirche“ zeigen, die starke Erfahrungen und eine dichte tiefe Identität bezeugen – aber eben nicht in den bisherigen Gefügen und nicht institutionell, sondern eher ereignisbezogen und immer ausgerichtet auf die Wirklichkeit der Menschen, mit denen zusammen das Evangelium entdeckt wird.

Bonhoeffers Prophetie

Diesen Wandel kann man schon lange sehen, und Dietrich Bonhoeffer hat ihn schon ihn schon 1944 gesehen. In einem beeindruckenden Brief schreibt er an sein eben geborenes Patenkind, bei dessen Taufe er nicht sein konnte:

„Du wirst heute zum Christen getauft. Alle die alten großen Worte der christlichen Verkündigung werden über dir ausgesprochen und der Taufbefehl Jesu Christi wird an dir vollzogen, ohne dass du etwas davon begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Was Versöhnung und Erlösung, was Wiedergeburt und Heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben in Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles ist so schwer und so fern, dass wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können. Das ist unsere eigene Schuld. Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen frühere Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur aus zweierlei bestehen: im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bist du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert…“ (Widerstand und Ergebung, DBW 8, 435).

„Beten und Tun des Gerechten“, das beschreibt den Horizont christlicher Identität, auch heute. Klar wird hier auch, dass wir von dieser sehr existenziellen Perspektive aus neu denken und handeln müssen. Bonhoeffer sieht eine neues Paradigma des Christseins wachsen, das auch die Gestalt der Kirche und das Verstehen des Christseins prägt.

Grundorientierungen der Zukunft

Was Bonhoeffer geahnt hat, das wird heute bedeutsam, wenn wir uns abschließend fragen, welche Charakteristika eine Christsein der Zukunft haben wird.

  1. Zunächst und vor allem glaube ich, dass wir einen neuen Blick auf den Kern des Christseins werfen müssen. Und dieser Kern ist mystisch. Denn es geht darum, in uns und zwischen uns die Wirklichkeit Gottes zu entdecken. Mystik meint ja nicht zuerst eine bestimmte spirituelle Praxis oder intime Versenkung, sondern viel grundsätzlicher: es ist eine Einsicht in die Wirklichkeit, ein sich anvertrauen an diese Wirklichkeit, die Christus ist und die zwischen und lebt. Zu entdecken, dass dies die Mitte des Kircheseins ist, ist wesentlich: nicht eine Struktur, sondern eine lebendigmachende Wirklichkeit, die uns und unsere Beziehungen lebendig und erfüllt macht. Natürlich ist damit eine Praxis verbunden, die zugleich mystisch und alltäglich ist, sich überall ereignen kann, wo Menschen in tiefer Solidarität füreinander und miteinander leben. Wenn die Papst Franziskus von einer Mystik der Gemeinschaft spricht, dann meint er das.
  2. Ich denke, dass Glauben und Christsein in Zukunft nur im Werden gedacht werden kann. Glauben zu lernen, Schritte im Glauben zu gehen, das ist in Zukunft keine Sache von Kindern, sondern ist die Grundwirklichkeit aller, die „auf dem Weg sind“. Es sind keine planbaren Wege, wohl aber Schritte und Wege, die wirklich aus der Kraft des Geistes wachsen. Das hat aber Konsequenzen für die Gestalt der Kirche: sie wird weniger fertig sein, als vielmehr eine Kirche im Werden, die in vielfältiger Gestalt immer wieder anders und neu wird.
  3. Ein dritter Akzent: es geht immer um die Sendung, in der wir stehen. Und diese Sendung führt zu den Menschen. Und immer geht es darum, den Menschen nahe zu sein: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten jedweder Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“, so schreibt es das Konzil. Dort also, wo wir uns einlassen auf die Menschen und ihre Sehnsüchte und Fragen, wächst die Glaubwürdigkeit der Botschaft Christi, und wachsen auch neue und vielfältige Formen der Kirche – neue Formen des Miteinanders, die an unterschiedlichsten Orten wachsen können.

Das wird viele Konsequenzen haben. Viele Grundfragen des Christentums müssen neu bedacht, neu interpretiert werden – genau wie es Bonhoeffer ahnte. Kirche will neu verstanden werden, Glaube gewinnt eine neue Gestalt.

Das ist ein großes Abenteuer – es ist das Abenteuer des Wandels. Es ist das Abenteuer der Wandelnacht. Gehen wir los!

[1] Vortrag zur „Wandelnacht“ im Kloster Lüne am 30. Oktober 2019.

Eine außergewöhnliche Idee ist es ja eigentlich nicht. Theologische Studientage werden landab landauf mit tollen Referent*innen organisiert. Und dennoch: seit zwei Jahren bin ich Gast bei Theologischen Studientagen in Fribourg, die mich sehr beeindrucken. Und nein, es ist nicht zuerst die Qualität der Referent*innen, obwohl die spitzenmäßig sind. Es ist etwas anderes, was dem Gelingen zugrundeliegt…

Und das hatte mich schon im letzten Jahr sehr berührt. Wie kann eine so gastfreundliche und geistliche Atmosphäre entstehen, so viel Kreativität in den Begegnungen, so viel Freundschaft und Freude. Hier haben wir im letzten Jahr angefangen, über neue Formen theologischer Ausbildung nachzudenken – hier entstanden neue Freundschaften. Das hatte ich noch nicht so oft erlebt. Und das ist ganz bestimmt einer geistlichen Atmosphäre zu verdanken. Ganz bestimmt – denn hier geht es um Beziehungen zwischen Menschen, oder besser: um das Zwischen des Geistes in diesen Beziehungen, die alles so kreativ machen.

Das gute Leben und der Anspruch der Theologie

So auch dieses Jahr. Der Titel sprach mich eigentlich nicht an – The good life – und den Theologen Miroslav Volf kannte ich nur vom Namen. Und damit starteten diese Tage. Mit einem Manifest. Denn es geht darum, dass Theologie eine neue Perspektive bekommt. Volf positioniert sich hier klar: zum einen kann Theologie nur wirklich Theologie sein, wenn sie aus einer gelebten Christusnachfolge wächst. „Fides quaerens intellectum“ – das ist kein theoretischer Lehrsatz, sondern eine erfahrbare und lebbare Grundwirklichkeit. Aber Volf geht noch einen Schritt weiter. Seine Vision vom guten Leben beschreibt ja präzise jenen Glauben, der Erkenntnis sucht. Er verankert sie zwischen dem Garten der Schöpfung, von dem wir zu einer beziehungsreichen Existenz gerufen und gestaltet sind – mitten in den Zerbrechlichkeiten und Wunden der ambivalenten Weltzeiten – und der Vision des himmlischen Jerusalems, der Stadt als der Zukunft der Wohnung Gottes unter den Menschen.

Was Volf in den Vorlesungen beschreibt (und damit sein unlängst erschienenes Buch „Für das Leben der Welt“, Münster 2019 vorstellt), das ist ein Aufruf zum Nachdenken mitten in einer Krise hinein. Aber es ist – im Kontext dieser Tage – auch eine Raumbeschreibung für das Ereignis in Fribourg. Denn was Volf skizziert, das ereignet sich ja gerade in diesen Tagen. Ich mindestens empfinde es so. Ist echte und gute Theologie denn anders denkbar als in einem Raum der Gegenwart Gottes? Als in einem Raum, in dem das Reich Gottes wenigstens anfanghaft das Miteinander gründet? Ist nicht „Kirche“ der Wachstumsraum der Theologie? Denn das sollte ja Kirche sein – ein Raum, in dem Gott vorwegnehmend eine Erfahrung seiner Gegenwart unter den seinen ermöglicht, in allen Bezügen des Lebens, im Feiern, in der Achtsamkeit zueinander, im Feiern und Reden. Genauso erlebe ich es in diesen Tagen.

Die Logik von Mellitus

Und deswegen ist es nicht verwunderlich, wenn ich ganz gebannt Graham Tomlin in seiner kleinen Vorlesung höre. Denn im Januar war ich, waren wir, geflasht von der Theologenausbildung in St. Mellitus (https://christianhenneckehildesheim.wordpress.com/2019/01/20/18-monate/). Und deswegen wollte ich gerne hören, was das „Telos“ der Theolog*innenausbildung ist. Und ja – auch hier wurde schnell deutlich, dass das Ziel dieser Ausbildung ja nichts anderes ist, als daran zu dienen, dass Christen in der Reife ihres Zeugnisses in der Welt Gottes Gegenwart bezeugen. Und das Ziel der Theolog*innenausbildung ist genau diese Reife, diese Grunderfahrung die Theologie und Spiritualität, Gebet und Studium, Inhalt und Leben miteinander verbindet. Also auch hier…: Theologie und ihr Lebensraum, die Gegenwart des Auferstandenen, die alles durchdringt.

Der liebevolle Blick

Es war wirklich einer der Höhepunktw bei den Studientagen 2019 in Fribourg. Wim Wenders kam. Der berühmte deutsche Filmregisseur hielt einen Vortrag. Und es ging um den Film „Der Himmel über Berlin“, denn der hat den Fotografen und Filmemacher nachhaltig verändert. Für diesen Film hatte er von der theologischen Fakultät Fribourg einen Ehrendoktor in Theologie erhalten. Und erst jetzt, Jahrzehnte später, kam er nach Fribourg, um eine Gastvorlesung zu halten.

Ich höre überraschende Dinge. Zunächst und vor allem: es gab kein Drehbuch, sondern der Film hat sich Schritt für Schritt entwickelt. Aber es wird noch intensiver, was Wenders zu erzählen weiß. Im Film geht es um Engel – zwei Engel, die die Menschen begleiten, ihnen zuhören, mit ihnen auf dem Weg sind, aber nicht handeln können. Ja, denn sie sind ja die Augen Gottes auf diese Welt. „Und deshalb“, so sagt er es seinen Schauspielern, „müsst ihr einen liebevollen Blick auf die Menschen richten. Dieser liebevolle Blick, der muss in eurem Spielen erkennbar werden“. Sie waren erschrocken und verdutzt: wie soll denn ein solch liebevoller Blick aussehen, fragten sie sich. Das fragte sich auch der Kameramann von Wenders…: „Denn du musst dann, wenn die Kamera auf die Menschen fällt, die von den Engeln angesehen werden, diesen liebevollen Blick filmen“. Tausend Fragezeichen standen, so Wenders, dem erfahrenen Kameramann im Gesicht. Am Ende hatte er es geschafft: mit Licht und Ausleuchtung wurde auch für den Zuschauer erfahrbar, was gemeint war.

Das war der Anfang für etwas Neues im Wenders Leben: der liebevolle Blick wurde für ihn zum Qualitätsmerkmal seiner Filme. „Ich war nicht zufrieden, wenn ich merkte, dass das nicht so war.“ Wenders ist es dabei wichtig zu unterscheiden: der liebevolle Blick ist etwas anderes als der liebende Blick. Denn während der liebende Blick leidenschaftlich beteiligt ist und sich sehnend ausstreckt nach dem oder der Geliebten, so ist der liebevolle Blick anders: er schaut voller Liebe auf den Menschen, auf die Natur, auf irgendetwas und legt frei, was an Potential, an Möglichkeiten, an Tiefe in dem Anderen, in der Anderen, in der Sache liegt: ihre Geschichte, ihren Wert, ihre Kraft. Und dabei bleibt aber eine Distanz, die freilässt, was sie freilegt.

Wenders erzählt noch weiter, und ich hoffe, dass ich diesen Vortrag noch einmal meditieren kann. Aber schon das Gesagte lädt zum Innehalten ein. Diese Grundhaltung, die Wenders entdecken konnte, ist vielleicht das Wichtigste überhaupt, was uns in der Begegnung mit dem Menschen und der Welt zuwachsen kann. Ein Blick, der voller Liebe den Menschen erhöht, ihn zur Entfaltung und zum Blühen bringt. Ein Blick, der erkennt, welche Möglichkeiten und Geschichten im Gegenüber liegen, mit wieviel Respekt und Achtung jedem und jeder zu begegnen ist, immer im Interesse daran, dass der oder die Andere immer mehr sie oder er selbst wird.

Resonanz als soziale Theologie

Und dann war ich gespannt auf Hartmut Rosa. Ich hatte schon viel von ihm gehört. Von seine Soziologie der Resonanz. Aber was ich erlebte, berührte mich zutiefst. Eine Soziologie der Resonanz gründet ja in einem zutiefst relationalen Wirklichkeitsverständnis. Es geht um ein „spürbares“, um ein „hörbares“ Phänomen, das Rosa mit großer Leidenschaft beschreibt. Und alles sind Geschichten, einfache Geschichten, zwischenmenschliche Erfahrungen. Die Art, wie Rosa sprach, entspricht total seiner Entdeckung – in lebendiger Zugewandtheit, in kreativer Wahrnehmung des Publikums und des Ortes, sodass diese Vorlesungen wirklich ein resonantes Geschehen waren.

Na klar, was Resonanz in der soziologischen Beschreibung ist, das soll hier nicht beschrieben werden. Das kann man allerorten nachlesen. Aber meine Resonanzerfahrung möchte ich einfach kurz andeuten. Ich war einfach erstaunt. Ich war begeistert und verwundert. Denn was ich hier von Hartmut Rosa hörte, das was eigentlich das, was mich überhaupt erst zum Christsein gebracht hat. Meine Grunderfahrung war doch die der … Resonanz: eine Erfahrung, über die ich mein Leben lang nachdenken muss, die ich aber auch immer wieder anzieht, die wirklich von Gottesnähe geprägt ist. Wenn also die Offenbarung des Johannes das himmlische Jerusalem als einen Ort beschreibt, in der der Herr inmitten der Seinen das Licht ist, das alles erleuchtet, wenn es wahr ist, dass es eine Erfahrung des „Gott mit uns“ gibt, wie sie die Evangelien in den Erfahrungen mit dem Auferstandenen reflektieren, dann lässt sich das soziologisch als Ort und Raum der Resonanz beschreiben. Und diese Erfahrung verwandelt das Selbstverständnis des Menschen und seiner Beziehungen. Sie kommen nicht irgendwie dazu, zu einem Selbststand – sie sind das Wesen. Und während ich Rosa lausche, fallen mir die Denkversuche von Klaus Hemmerle und seiner trinitarischen Ontologie ein, fällt mir die erfahrungsgesättigte Theologie der Kirche ein, die zur Dreifaltigkeitslehre führte und ihrer Rede von der Perichorese. Und ich denke: Rosa, das ist der Soziologe, der mir meine Grunderfahrung der Gegenwart des Auferstandenen von der anderen Seite, von der soziologischen Rückseite erschließt.

Und ich staune. Das sind nun wahrhaft Zeichen der Zeit, die im Licht des Evangeliums tönen: menschliches Leben findet seine Fülle dann, wenn Resonanz ist, wenn es klingt, wenn die Zeit zwischen und erfüllt ist – und das Leben.

Spannend ist auch, dass sich die Grammatik weiten muss, um diese Erfahrung aufzunehmen.

Nein, Resonanz lässt sich nicht herstellen. Sie entstammt nicht einem aktiven aggressiven Zugriff auf die Wirklichkeit, aber sie ist eben auch nicht passives Erleiden und überwältigt werden. „Es ist Medium-Passiv“, meint Rosa, und drückt damit exakt die Erfahrung aus, die man in der Theologie mit einem alten Wort „Gnade“ nennt.

Summa

Und wie das tönt! Diese Tage sind kreativ, sie wecken auf, zu neuer Leidenschaft, zu einer neuen Theologie, zu einem neuen Leben. Und ich spüre Dankbarkeit und Herausforderung. Dankbarkeit dafür, dass die Wege sich öffnen für eine neue Perspektive des Lebens und Denkens. Es wird mir aber auch immer deutlicher, dass im Blick auf die Theologie und das theologisieren neue Wege nötig werden. Die Erfahrung von St. Mellitus, die Erfahrungen theologischer Studientage und andere Erfahrungen des Miteinander Denkens bereiten neue Schritte vor, die sehr herausfordernd sind. Vor allem dann, wenn es darum gehen könnte, Leben und Denken, Existenz und Theologie in ein neues Zueinander zu bringen. Es könnte ja sein, dass sich dann Widerstände regen. Gut begründete, wie immer. Aber eben auch deswegen, weil bewährte Gleichgewichte Auseinanderfallen und Verluste befürchtet werden.

Und ja, es kann nicht sein, dass wir pastoral von einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel ausgehen, das aber unser Denken und unsere Orte der Theologie nicht ebenso tiefgreifend verwandeln sollten… Ich bin gespannt darauf.