„Eine Steigerung ihrer Attraktivität kann die Kirche in der aktuellen Lage nicht über rein religiöse Aktivitäten gewinnen. „Heiliges“ wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering…. Am meisten gefragt, erwartet und eingefordert werden Aktivitäten der Kirche im Bereich sozialen und solidarischen Handelns.“  So schreiben die Autoren der neuesten Kirchenmitgliedschaftsstudie. Das ist spannend und herausfordernd. Heißt das etwa, dass Spiritualität doch kein Megatrend ist und – wie die Studie auch unterstreicht – die Rede von einer im Menschen grundgelegten Religiosität nur eine Wunschvorstellung ist?

Mich hat dieses Studienergebnis sehr zum Nachdenken angeregt und bewegt. Denn vielleicht wird hier auch deutlich, dass wir auf dem Sprung zu einer neuen Entwicklung von Spiritualität und Glauben sind. Denn eins ist ja klar: bis in die jüngste Vergangenheit gab es eine Normativität spiritueller Praxis, die kirchlich geformt war – oder man wanderte in „esoterische“ Formen ab: zwischen Yoga, Naturspiritualität und Zen, die auch in christlichen Kontexten erfolgreich ausprobiert wurden.

Dabei ist wichtig, dass eine spirituelle Praxis, kirchlich geformt oder mit dem Reichtum anderer Religionen verknüpft, nie mehr ist als ein Instrument und Mittel für die Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens, das wir Gott nennen. Ich denke, dass wurde oft verwechselt: nicht die Eucharistiefeier, nicht die bestimmte Gebetsform, nicht die Lobpreismusik, nicht eine bestimmte Meditationskunst, nicht das Lesen der Bibel ist das Ziel, sondern immer nur ein Weg zur Begegnung mit Gottes Wirklichkeit, mit seiner Gegenwart.

Und in der Tat erlebe ich aber zu sehr, dass die kirchlichen Formen mit dem Ziel verwechselt werden. Wenn daher viele Menschen mit diesen Formen nichts mehr anfangen können, dann vielleicht auch deswegen, weil viele dieser Formen eben nur noch wie leere Hülsen wirken – und nicht zu einer Erfahrung des Geheimnisses führen.

Ich würde also folgern, dass die Menschen unserer Zeit heute deutlich spüren, ob hinter einer Form eine echte Substanz steckt. Und das, so spüren sie vielleicht zu Recht, ist gerade in der zuweilen fremden und rituellen kirchlichen Praxis nicht erfahrbar. Vielleicht zeigt diese Emanzipation von kirchlichen Formen, die nur formal sind, eigentlich ein tiefes Sehnen nach Begegnung und Berührung mit einer Wirklichkeit, die man nicht „in die Hand“ bekommen kann, die ergreift und erfüllt.

Und ich frage mich auch, ob nicht die zeitgenössische Sensibilität für das „Soziale“ einen weiteren Kern der spirituellen Identität des Christseins trifft. In der Tat ist ja für uns Christen die Begegnung mit dem Anderen, die Gemeinschaft zwischen Menschen die eigentliche Fülle des Lebens: Communio eben. Die Kunst des Miteinanders, die Kunst des Liebens, die Option für den Nächsten – das ist eigentlich der Königsweg des Christseins, der das Sich-Ereignen der Gegenwart Gottes erwartet und öffnet. Das „Soziale“ ist mehr als zugewandte Sozialarbeit, es ist „Caritas“, ein anderer Name für Gott.

Kann es also sein, dass die in der 6. Studie zur Kirchenmitgliedschaft deutlicher als je ein tiefer „sensus fidei“ sichtbar wird? „Spüren“ die Herzen der Menschen in Deutschland – jenseits konfessioneller und institutioneller Rahmungen – die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes tiefer, als kirchengebundene Untersuchungen großkirchlicher (und auch freikirchlicher) Provenienz ihnen unterstellen? Zeigt sich hier eine „wilde Kirchlichkeit“, die ursprüngliche Grunderfahrungen ins Licht rückt? Und ist das nicht eigentlich die Chance dieser Zeit der Umbrüche und Transformationen?